Bäume

Ein Spaziergang zum Hochzeitsbaum bringt mir wieder lebhaft vor Augen dies Bild, in dem zwei ihren Platz gefunden haben. Auch unter der Erde, wie ich vermute, miteinander verschlungen und verwoben. Den Hochzeitsbaum habe ich so genannt, eine Eiche und eine Kiefer kunstvoll aneinander gewachsen, seit vielen Jahren schon, so prächtig, dass ich mich immer wieder auf den Weg zur ihnen mache.

Bäume wählen ihren Platz mit einem gewissen Risiko. Ich schreibe den Satz hin und denke, das stimmt nicht. Bäume haben keine Wahl. Peter Wohlleben spricht von Baumlotterie. Der Wind hört auf, den Samen zu tragen, der Vogel lässt ihn fallen. Dann: Austreiben und, mit Glück, sich verwurzeln. Wildbiss und Angriffe von Menschen überleben. Der Sonne zuwachsen. Für das Immer eines Baumlebens feststehen.

Haben wir Menschen eine Wahl, wo wir hinein geboren werden?

Der Inder Raphael Samuel würde die Frage verneinen. Er verklagt seine Eltern auf Schadenersatz, weil sie ihn geboren haben. Das eigene Leben als schädigendes Ereignis zu qualifizieren, ist die Essenz der Nicht-Zugehörigkeit. Keinerlei Verwurzelung, außer vielleicht der Verwurzelung mit einer Idee, die das Dasein weniger nährt als verstört.

Mittlerweile gibt es eine Bewegung derer, die die eigene Geburt und alles weitere Geborenwerden auf der Erde ablehnen. Sie nennen sich Anti-Natalist*innen.

Entfremdung bezeichnet einen Zustand der beziehungslosen Beziehung, in der sich Subjekt und Welt innerlich unverbunden, gleichgültig oder sogar feindlich gegenüberstehen. /Hartmut Rosa

In der griechischen Mythologie haben die Menschen eine Wahl vor ihrer Geburt und suchen ihr künftiges Leben aus. Ich stelle mir dies vor wie das Zusammensetzen eines umfangreichen Menüs aus einer schier endlosen Speisekarte. Ein Legospiel der besonderen Art.

Nur leider trinken die Seelen, bevor sie dann auf die Welt kommen, aus dem Fluss des Vergessens, Lethe, und möglicherweise erinnert sich Raphael Samuel deshalb nicht mehr daran, dass er ja gesagt haben könnte zu diesem besonderen Plan, dem sein Leben folgt. Das schließt die Wahl seiner Eltern ein.

Allerdings, als ich zum ersten Mal hörte vom Glauben an ein Einverständnis in die Umstände, in die wir hineingeboren werden, war ich ungläubig empört. Meine Lebensumstände schienen mir eine Zumutung.

In the beginning I was so young and such a stranger to myself that I hardly existed. / Mary Oliver

Tatsächlich war ich mir selbst so fremd, dass ich kaum existierte und mich fühlte wie eine Pflanze, die durch die Wüste weht und sich von Luftwurzeln nährt, eher überlebend als lebend.

Verwurzelt sein meint, einen Platz finden, alleine oder miteinander, in sich verankert sein, ohne festhalten zu müssen, eine hohe Form von Flexibilität entwickeln, ein grundliegendes Einverständnis mit dem Sein in der Welt in der Weise, in der sich es sich entfalten, im Moment, vorgestern, in zehn Jahren.

In sich selbst ankern, gleichzeitig die Kunst entwickeln, sich zu nähren aus dem Atmen mit anderen, aus dem gemeinsamen Lachen, auch aus der Stille und dem Alleinsein, aufrecht stehen können an welchem Platz auch immer, wieder auftauchen nach dem Abgeholzt werden, die Welt als grundsätzlich sicheren Ort begreifen, sich selbst als zugehörig und im Vertrauen.

Natürlich ist dies für die wenigsten ein dauerhafter Zustand. Weil wir erschüttert werden, herausfliegen aus dem Miteinander, vertrieben werden aus dem inneren oder äußeren Zuhause. Trotzdem sind das die Zutaten in dem Dünger, der unser autonomes Nervensystem im Zustand von Ruhe, Freude, Zuneigung hält und ihm hilft, nach jeder Phase, in der wir überleben oder kämpfen müssen, wieder zurückzukehren.

Wurzeln haben etwas mit Resilienz zu tun.

Was bedeuten Wurzeln, was bedeutet verwurzelt oder verankert sein, für dich?

Es gibt so viele Gründe und Möglichkeiten, sich nicht zugehörig zu fühlen und also unverwurzelt oder entwurzelt, draußen in der Kälte stehend, während die anderen in der guten Stube am Feuer sich wärmen. „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Hans Christian Anders war lange meine Schwester im Geiste. Ohne Wurzeln sind wir verwaist. Ohne Wurzeln sind wir von uns selbst getrennt, entfremdet.

Menschen, die in dieser Weise unverbunden sind, sind nur selten wirklicher Empathie fähig. Innerliche Unverbundenheit fördert Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit, wie Hartmut Rosa Entfremdung erklärt. In diesem Zustand sind wir letzten Endes fremd in der Kunst des Mensch-Seins.

Einen Sinn im eigenen Leben sehen (können), ist ein Zeichen von Verbundenheit.

Do you guess I have some intricate purpose? Well, I have … for the April rain has, and the mica on the side of a rock has. /Walt Whitman

Einen Sinn sehen können in der Welt, die sich um uns entfaltet, im Aprilregen oder im Glimmer des Felsens, bestätigt Verbindung.

Den Gründen und Möglichkeiten, sich nicht zugehörig, sich nicht verwurzelt zu fühlen, stehen zur Seite ebenso viele Gründe und Möglichkeiten, Wurzeln auszubilden und sie tiefer wachsen zu lassen. Manchmal keine so einfache Aufgabe. Und dennoch!

Als ich in Hamburg lebte, besuchte ich regelmäßig ein Yogastudio, das versteckt in einem Hinterhof des Stadtviertels Rotherbaum lag.  Wir standen in den Übungen Baum, Tänzerin oder Mond auf einem Bein. Die Baumübung begann mit der Einladung, sich vorzustellen, wie aus der Fußsohle des Standbeins Wurzeln in den Boden hinein wuchsen. Die anderen genannten Übungen folgten der Baum Übung, sie wuchsen aus dem Baum heraus.

Ich stehe heute noch gerne auf einem Bein und schaue meiner Fußsohle zu, wie sie vor meinem inneren Auge Wurzeln schlägt. Tatsächlich, je älter ich werde, desto besser bildet sich meine Standfestigkeit aus. Gleichzeitig nimmt meine Flexibilität zu. Das ist auch metaphorisch gemeint.

Bäume haben auf den ersten Blick keine Standort Flexibilität. In der „Herr der Ringe“ lässt J. R. R. Tolkien einen Wald von Baumwesen, die Ents, in die letzte Schlacht ziehen. Das verbreitet Entsetzen schon durch die bloße Tatsache, dass das, was kein Mensch je in Bewegung fand, plötzlich verschwindet und woanders wieder auftaucht. Tatsächlich können Bäume wandern, indem sie über Generationen ihren Standort verschieben. So sichern sie ihr Überleben, wenn das Klima sich ändert.

Mit dem Zeitraffer könnten wir den Marsch der Bäume sehen. Mit dem Zeitraffer könnten wir den Gang durch unser eigenes Leben betrachten. Im besten Fall hülfe uns das zu erkennen, dass eins aus dem anderen sich fügt.

Habe ich schon gesagt, dass die Fähigkeit, Wurzeln auszubilden, etwas mit Vertrauen zu tun hat?

Wir können unseren Geist nähren aus der Resilienz der Bäume. Aus dem Blick der Dichter*innen. Aus dem Zeugnis derjenigen, die Geschichten der Hoffnung weitertragen. In meiner Geschichte der Hoffnung wird das Mädchen mit den Schwefelhölzern hereingebeten ans Feuer, in ein warmes Bett. In einer anderen Geschichte der Hoffnung können wir den Baum betrachten, der aus den Trümmern des World Trade Centers geborgen, seine Wurzeln nach einem langen Kampf ums Überleben an einem anderen Ort ausbildete.

Wurzeln sind etwas, was wir lernen müssen.

Denn was für ein Ratgeber wäre der Schmerz, wenn er keine Hoffnung geben könnte.

_______________________________________________________________________________________

Wenn mein Text dich inspiriert, dich ins Nachdenken gebracht, dir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat… – kannst du mich auf einen Kaffee einladen über meine virtuelle Kaffeekasse. Das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Die Kaffeekasse steht auf der Plattform ko-fi.com. Kofi verschenkt nicht nur einen freundlichen Regen von Herzen und Tassen an die Spendenden. Sondern nimmt keine Gebühren für Spenden. #freundlicheökonomie

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert