Balance und Veränderung

Einmal im Monat suche ich aus meinem #Freitagsbriefe Archiv einen Text heraus, den ich als Archivbrief noch einmal verschicke.

Ich bin immer wieder erstaunt über die großen Anzahl von Essays, die ich im Lauf der letzten vier Jahre geschrieben habe. Tatsächlich lese ich die alten Briefe mit Interesse, auch, weil ich manchmal nur eine vage Erinnerung an ihren Inhalt habe. Ich überarbeite sie, wenn mir dies notwendig erscheint.

Das Zurückblicken hilft mir, meine Perspektive auf mein Tun neu auszurichten. Gleichzeitig bringt es mich mit alten Erlebnissen und Gefühlen in Kontakt. Das kann traurig oder freudig sein.

Den Text, auf den heute meine Wahl gefallen ist, schrieb ich in einer für mich schwierigen Zeit der Neuausrichtung. Heute geht es mir ähnlich.  Ich finde das Leben mühsam, alte Muster zeigen sich, damit ich mich von ihnen verabschieden kann. Wieder denke ich über Veränderungen nach. Bzw., vielleicht richtiger: Die Veränderungen wollen kommen und ich habe keine Wahl.

Von einer Astrologin habe ich gelernt, noch bis in die zweite Novemberhälfte fördert die Konstellation der Planeten das, was ich einen inneren und äußeren Hausputz nennen würde. Immer wieder die Frage: Will ich das (bei)behalten? Oder will ich es nicht (bei)behalten?

Manchmal bringt uns altes Gepäck aus der Balance. Eine weitere gute Frage ist deshalb: Wo verliere ich Energie, was raubt mir meine Energie?

Mit dieser kleinen Vorrede geht es also zurück in die Zeit, die eine tiefe Zensur für meine Arbeit, insbesondere für mein Schreiben, wurde. Ich habe damals meine #Freitagsbriefe auf das Mitgliedschaftsmodell umgestellt:

Ich kopiere die Seiten meiner Webseite, die bald meine alte sein wird. Beim (vorschriftsmäßigem) Bearbeiten zerschoss es ihre sämtlichen Formatierungen. Unreparierbar. Ich versuchte ein paar kosmetische Korrekturen, danach sah die Webseite etwas weniger fremd aus. Doch blieb sie weiterhin sehr fern vom früheren Aussehen. Zu weit weg von einer neuen Idee, von der Veränderung, mit der ich gespielt hatte. Deshalb wird soul-of-metta.com in 2 Tagen ablaufen. Sie wurde keine zwei Jahre alt.

Meine Arbeitsgrundlage ist außer Balance geraten.

Meine Körper ist ebenfalls außer Balance geraten in den letzten Wochen. Zuerst war es der Fuß. Dann ein nachhaltiger Cocktail von Kleinkindkeimen.

Die Dysbalance im Arbeitsbereich verstärkte sich, es blieb so viel liegen. Das nagende Gefühl, nicht genug zu tun, erhöhte den Druck.

Die alte Webseite fand ich wunderschön. Ricarda Kiel, die mir entscheidend geholfen hat, sie in die Welt zu bringen, vergleicht Webseiten mit einem Garten. Etwas, das organisch wächst, auch mal ein bisschen schief und krumm sein und Wildwuchs aufweisen darf. Ein Garten, in dem Besucher*innen spazieren gehen und in überraschenden Ecken überraschende Dinge finden können. Meine Webseite war so ein Garten, der auch bettflüchtigen Menschen mitten in der Nacht Zuflucht bot.

Ich bin traurig über den Verlust. Eine Freundin, die ein paar Häuser weiter wohnt, lädt mich zu einem Abschieds Ritual an ihrem Feuerkorb ein. Vor drei Wochen war das eine schöne Idee für Anfang Juli. Jetzt: akute (Wald)Brandgefahr. Unsere Wiesen und Felder sind verdorrt. Eine befreundete Bio-Bäuerin erzählt, es lohne sich wirtschaftlich nicht, Getreide zu beregnen.

Mir bleibt nur ein Fragezeichen für die Landwirtschaftspolitik. Da ist seit langem viel außer Balance geraten.

Ich bin nicht die einzige, die über Balance nachdenkt.

Maria Shriver schreibt in ihrem Editorial des jüngsten Sunday Paper, wie ihr nach einer Schwindelattacke von den Ärzten empfohlen wird, ihre Balance zu trainieren. „Stehen Sie eine Minute auf jedem Bein.“ Damit war die Aufgabe nicht zu Ende. „Behalten Sie Ihre Balance beim Vorwärtsgehen.“

Wie bewältigen wir die Aufgabe, Vorwärtszugehen UND die Balance zu halten?

Das Gute an der etwas langweiligen Tätigkeit, den Inhalt einer Webseite zu kopieren, damit die Texte nicht verloren sind: Ich ernte die Fülle dessen, das ich in den letzten 2 ½ Jahren geschaffen habe.

Ich freue mich an meinen eigenen Gedanken, Worten, Ideen. Ich sehe den Pfad, den ich teilweise mühsam ertasten musste, als ich mich entschlossen hatte, ein weiteres Mal aufzubrechen. Ich kann das, was ich erreicht habe, in dieser Fülle anders wertschätzen. Ich sehe nicht nur, was es alles noch zu tun gilt. Ich weiß plötzlich, es ist gut, es ist wichtig, auch wenn ich nicht die Siebenmeilenstiefel trage, die sich meine Ungeduld immer wieder wünscht.

Währenddessen: Die Linden in der Dorfstraße singen. Als ich die Melodien zum ersten Mal höre, schaue ich mich nach dem Lautsprecher um. Ich erinnere mich vage an eine Kunstausstellung, in der aus Lautsprechern Brummgeräusche klangen. Auf der Dorfstraße sind in keiner Ecke Lautsprecher montiert. Ich muss länger suchen, bis ich sie sehe, die Vielzahl der Hummeln, Bienen und Wespen, die zwischen, unter und in den Lindenblüten brummeln, torkeln, verschwinden.

Shriver erzählt, wie sie ihre Leben lang hinter der Balance herlief, sich  unausgeglichen, nicht erfolgreich und nicht gesehen fühlte. Bis sie herausfand: Balance is an Inside Job.

Auch wenn wir sie üben und wissen, wie wir auf einem Bein stehen, können wir jederzeit die Balance verlieren.

Ich weine, weil die Welt in Lager zerfällt. Immer wieder. Immer noch.

“How to Keep your Heart Open in Hell” ist eine Medizin, die Shriver gegen die Überwältigung durch Verzweiflung findet: Sie hört diesen Vortrag von Ram Dass, dessen erste Worte lauten:

One of the things that changed in me is that I fell in love with the universe. And it’s hard to talk about it,

(Eines der Dinge, die sich in mir verändert haben, ist, dass ich mich in das Universum verliebt habe. Und es ist schwer, darüber zu sprechen).

(Den Vortrag kannst du hier auf Englisch anhören).

Ist es möglich, diese Welt zu lieben, mit ihren Ungerechtigkeiten und der Gewalt und den Bedrohungen, die uns nicht wirklich nahe sind, weil sie nicht in unserem Land stattfinden, die uns dennoch betreffen. Sie betreffen uns, weil wir mitfühlende Wesen sind und auch, weil wir spüren, in einem Wimpernschlag kann sich alles verändern.

What is in the one is in the whole (was in Einem ist, ist im Ganzen)

ist einer der Lieblingssätze von Caroline Myss.

Vielleicht können wir die Welt nicht so lieben, wie Ram Dass es vermochte. Doch können wir auf alle Fälle ein bisschen zum Lieben der Welt beitragen.

Zum Beispiel könnten wir singende Lindenbäume lieben.

Oder den Mond in seiner Regelmäßigkeit am Himmel.

Oder, in Ermangelung des Mondes, die Straßenlaterne beim Hauseingang.

Oder die Möglichkeit, ein anderes als ein Feuerritual zu finden, damit nichts abbrennt.

Die Menschen vom Stamm der Turkana in Kenia gehören zu den Meister*innen im Umgang mit Dürre. Seit Jahrhunderten leben sie mit Trockenperioden. So schlimm wie jetzt war es allerdings noch nie. Die Zeit vom 7. April 2022 – Warten auf die Wasserernte  – berichtet vom ansteckenden Elan, mit dem die Turkana „ihre Lebensweise umkrempeln“. Trotzdem es kaum mehr was umzukrempeln gibt, tun sie alles, um ihre Balance den Umständen anzupassen. Mit Elan!

Die Kunst, die Balance immer wieder herzustellen, ist eine Kunst der Liebe. 

Liebe zum Land. Liebe zu den Tieren. Liebe zum Wasser. Liebe zur Art, frei zu leben im Einklang mit dem, was ist.

Ohne Liebe könnten die Turkana keinen Elan finden. Nur noch einmal am Tag essen zu können, dürfte keinen so großen Elan bescheren. Die Liebe aber kann das.

Großartige Begleiterinnen beim Lieben der Welt sind die Dankbarkeit, das ehrfürchtige Staunen, die Freude. Sich daraufhin auszurichten, sich auf diese Weise in Balance zu bringen, ist eine Entscheidung. Und, ja, es ist immer wieder Arbeit. Doch diese Arbeit bringt uns Freiheit, Freiheit von äußeren Umständen und darin lässt sich neue Energie, wo die alte aufgebraucht schien.

Dieser Text erschien erstmalig als #Freitagsbriefe Essay am 1. Juli 2022. #freitagsbriefe kannst du abonnieren. Als kostenfreien Archivbrief oder druckfrisch im Crowdfunding Modell, um meine Arbeit zu unterstützen. Wenn du mehr über die #Freitagsbriefe erfahren möchtest, lies hier weiter.

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