Ein Mosaik

Zum Internationalen Frauentag 8. März 2024

 I.
Frauen sind so wunderbar, sagt meine Osteopathin, als ich ihr erzähle, dass meine Hamburger Freundin, wenn sie ankommt, ihre Schürze aus dem Koffer nimmt und sich an der Herd stellt. Sie nimmt aus dem Koffer des weiteren bündelweise Koriander, Rauchwerk mit transportablem Räuchergefäß, gelegentlich Zimtstangen, Sternanis und Lachsfilet.

Ich habe eine zweite Schürze gekauft, die ich ihr anbiete, sie bleibt lieber bei ihrer Routine, wenn sie kommt, bringt sie Schals mit und wundervolle Kleider, die sie auf Flohmärkten findet. Nachts trinken wir Rotwein, gehen ums Dorf und finden Worte für das, was uns in der Tief formt.

Aus dem Koffer meiner Freundin quellen Schätze, die nach 24 Stunden wieder einpackt werden. Sie und die Schätze, die nicht zum Aufessen bestimmt waren, verschwinden, es bleiben in meinem Wohnzimmer, dem Hauptquartier der Besucherin, Löcher in der Luft zurück, wo vorher ihre Gegenwart Orte im Raum einnahm. Eine Leere, die sich selbst verschluckt und um die Abgereiste trauert.

II.
Meine fünfundachtzigjährige Tante kann öfter nicht schlafen und übt dann auf dem Klavier, das sich stumm schalten lässt, mit einem Kopfhörer Jazz Stücke. Ich habe mich jetzt in den Jazz hineingeschmissen, sagt sie, und sie sagt auch, die Investition in das Klavier, das ihre Nachbarn nachts nicht stört, sei eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen.

Ich besuche meine Tante kürzlich, es drängt mich, sie wiederzusehen, ich kaufe im Untergeschoss des Münchener Hauptbahnhofs Schokoladenstangen von Läderach, sie kauft bei einer der besten Confiserien Bayerns kleine Kunstwerke mit vielen Schichten und fruchtiger Dekoration. Wir trinken Tee, teilen uns Kuchen und Schokolade, geben uns mit Begeisterung der Geschmacksanalyse hin.

Meine Tante hat drei Kinder geboren, die sich untereinander gerne mögen, der Rest meiner Cousins und Cousinen zieht Gräben und versteckt sich darin. Mir war das als Kind schon klar, dass du wahrscheinlich die einzig Normale in der Familie bist, sage ich zu ihr.

Sie sagt, als sie von eigenen Konflikten bei der Verwaltung eines Erbgrundstückes berichtet, ich habe nach meiner Beteiligung daran gesucht; und ich habe sie gefunden.

Meine fünfundachtzigjährige Tante zählt auf die Ergebnisse ihrer Ursache-Wirkung Befragung. Meine Tante versteht ihr Karma.

Eine Woche nach meinem Besuch bekomme ich eine Postkarte von ihr.

„Die Schokolade war zu gut. Alles weg !!!“, schreibt sie.

III.
1756 malt François Boucher ein Bildnis der Marquise de Pompadour. Auf über drei Quadratmetern können wir die Geliebte Ludwig XV. bewundern, wie sie hingegossen auf ihrer Chaiselongue liegt. Sie trägt ein meergrünes Kleid aus Seidentaft, das Kleid ist durchaus die Hauptdarstellerin, seine Oberfläche schimmert wie die sich auflösende Gischt, und meergrüne Wellen umspülen die Marquise in ihrem Boudoir,  tragen unzählige Rosenblüten aus rosafarbener Seide.

Ich finde eine Postkartenreproduktion des Gemäldes in der Münchener Alten Pinakothek, wo das Original hängt, das Original sehe ich nicht, ich trage die Karte bei mir und schaue immer wieder darauf. Die Frau, die einen berühmten Namen trägt, die große Karriere gemacht hat, (würden wir heute sagen). Damals (1730) konnte sich ein neunjähriges Mädchen aus bürgerlichem Hause nichts Erstrebenswertes vorstellen, als das Bett des Königs zu teilen. Das sind so die Eckdaten. Der Name. Die Karriere. Das Überleben in der Porträtkunst des 18. Jahrhunderts.

Boucher, der Hofmaler, hat nicht nur Porträts des königlichen Haushalts ausgeführt, sondern war auch für die Ausstattung zuständig, entwarf Bühnenbilder für die Oper und Dekors fürs Porzellan. Er wusste also einiges über Inszenierung und Madame du Pompadour ist hergerichtet wie ein Geschenk. Um den Hals trägt sie eine Schleife in der Farbe der Rosenblüten, der vordere Miedereinsatz besteht ausschließlich aus solchen Schleifen; die Schleifen laden ein, daran zu ziehen und die Frau auszupacken. Sie könnte nicht weglaufen, ihre Pantöffelchen, die sich so winzig ausnehmen wie die Füßlein unter dem voluminösen Kleid, scheinen kaum zum Gehen, geschweige denn zu einer schnelleren Form der Fortbewegung gemacht.

Und doch ist dies Geschenk nicht leicht verdaulich, das Rosa, das Chichi der Einrichtung, selbst das Hündchen, das sie unverwandt anschaut, alles Staffage. Im Zentrum  des Porträts das offene Buch, das die Pompadour in der rechten Hand hält, handgeschriebene Seiten, die enthalten, worüber sie gerade noch nachgedacht, was sie ausformuliert hat.

Die Schublade des kleinen Tisches, der neben der Chaiselongue steht, ist offen, eine Schreibfeder steckt darin, der Briefumschlag auf dem Tisch wurde kürzlich aufgerissen, unter dem Tisch findet die Betrachterin Bücher, ein weiteres Tagebuch, mehr Briefe und Schreibmaterial häufen sich in unordentlichen Stapeln am linken unteren Bildrand. Das war die Arbeit des Tages. Hand und Feder sind jetzt gesenkt, ihr Blick ist in die Ferne gerichtet.

Auf einem früheren Bild hat sich Madame Pompadour mit einem großformatigen Manuskript, mit Büchern von Diderot und Montesquieu abbilden lassen. Hier bin ich, sagt das Bild, und ich weiß genau, was ich tue. Hier bin ich, sagt auch das Bild von Boucher; und plötzlich spielt nicht mehr das meergrüne Kleid die Hauptrolle, sondern die mit Buchstaben beschriebenen Blätter und die gedruckten Folianten sind das, worum es eigentlich geht: Das Wissen, wie die komplexe Klaviatur höfischen Lebens zu spielen ist.

Jeanne-Antoinette Poisson, so ihr ursprünglicher Name, war die erste königliche Mätresse bürgerlicher Herkunft, sie gehörte zu den mächtigsten Frauen ihrer Zeit und behielt ihre Stellung am Hof selbst als der Königs längst schon anderen den Vorzug gab. Sein Geld gab sie mit vollen Händen aus, sie begünstigte ihre Verwandtschaft, ihre Zeitgenossen schmähten und fürchteten sie, ihr Bild wurde geformt von der Abscheu vor ihrer Bürgerlichkeit, vor ihrem Machtbewusstsein, vor ihrer Verschwendungssucht.

Voltaire, den sie förderte, sagte, sie „war gebildet, klug, liebenswürdig, voller Anmut, künstlerisch begabt und hatte von Geburt einen gesunden Menschenverstand und ein gutes Herz“. Ansonsten gibt es wenige historisch verbürgte Kommentare von Zeitgenossen über die Pompadour, dafür existieren zwei Bände mit Briefen, die sie nie geschrieben und Memoiren, die sie nie verfasst hat.

Anlässlich ihres 300. Geburtstag veröffentlichte die NZZ 2021 einen umfangreichen Artikel über das Leben der Pompadour und fasst zusammen:

„Über zwei Jahrzehnte hinweg hat die Frau alle Herrschaftsmittel ihrer Zeit ausgenutzt und sie eisern für ihren eigenen Machterhalt eingesetzt. So, wie es zahllose Männer vor und nach ihr taten, ohne dass jemand besonderen Anstoss daran genommen hätte.“

IV.

Bis zum 7. März 2024 haben Frauen in Deutschland, die sich in einem bezahlten Beschäftigungsverhältnis befinden, umsonst gearbeitet. 66 Tage unbezahlte Arbeit errechnen sich aus der 18% Lücke, die im Durchschnitt zwischen den Gehältern von Männern und Frauen besteht. 

71% der Unterschiede ist nach Angaben der Statistiker auf „strukturelle Unterschiede zurückzuführen (Frauen arbeiten meist in Branchen und Berufen, die schlechter bezahlt werden).

Bei vergleichbarer Tätigkeit und Qualifikation bekommen Frauen pro Stunde im Schnitt 6% weniger Gehalt.

V.
1903 reist Leoti Blaker aus Kansas nach New York. In der Postkutsche lässt ihr Banknachbar sich gegen sie schaukeln und legt schließlich seine Arme um ihre Taille (oder streicht ihr über den Rücken, die Geschichte wird unterschiedlich erzählt). Jedenfalls: Der Mann fasst sie an. Leoti zieht die Hutnadel – 8 cm lang – und sticht zu. Der Angreifer flieht. Die Presse berichtet.

In der Folge werden Hutnadeln zunehmend als Verteidigungswaffen gegen übergriffige Männer eingesetzt, darunter ein Straßenräuber, der erfolgreich in die Flucht geschlagen wird.

Es dauert nicht lange, bis die Zeitungen von der Hutnadelgefahr zu sprechen beginnen. Ihre Klage gilt nicht der Tatsache, dass Männer Frauen, die alleine unterwegs sind, belästigen. Die Presse berichtet, dass der öffentlichen Raum zur Gefahrenzone für Männer geworden sei. Es sollen Männer durch Hutnadeln schwer verletzt und sogar getötet worden sein.

In den USA wie in europäischen Metropolen werden Gesetze gegen Hutnadeln verabschiedet, Frauen mit Strafzahlungen fürs Hutnadeltragen belegt und gelegentlich inhaftiert, wenn sie sich weigern, die Strafe zu zahlen.

VI.
Michael Cunningham veröffentlicht 1998 seinen Roman “The Hours“ (Die Stunden), dem 2003 der kongeniale Film folgt, sieben Jahrzehnte und drei Frauenleben verwebt er in einem Bild, das sich aufbaut wie ein Schichtkuchen, der durchgeschnitten und aufs Neue gebacken wird, die Grenzen der Zeit aufgehoben, der eine Gedanke reicht aus Richmond in England nach Los Angeles nach New York und wieder zurück, eine kreisförmige Inspiration, eine Geschichte, die nie aufhört.

Ich stolpere verstört aus dem Film und irre durch die Straßen New Yorks, ich spüre, was mich in der Tiefe ausmacht, ich spüre die Wunden der Frauen, die eingesperrt wurden in den weißen Vorstadtbungalows mit abgezirkelten Rasenflächen, in den Gärten Richmonds, in einem schicken Hosenanzug in Greenwich Village, auf dem Weg in den nächsten Blumenladen.

Ich erinnere mich an die Szene, in der Virginia Woolf die Steine aussucht, die sie in ihre Manteltasche Manteltasche steckt, bevor sie sich am 28. März 1941 im Fluss Ouse ertränkt.

Dearest, I am certain I am going made again, beginnt ihr Abschiedsbrief an ihren Ehemann Leonard Woolf.

Ja, denke ich, ich wäre schon längst verrückt und tot unter ihren Lebensumständen. Unter den Lebensumständen der meisten Frauen, tatsächlich.

Franziska Schutzbach schreibt in ihrem großartigen Buch „Die Erschöpfung der Frauen – Wider die weibliche Verfügbarkeit“ über die Angst und Unsicherheit von Frauen, auch, berühmter Künstlerinnen (Schutzbach wählt Meret Oppenheim als Beispiel).

Schutzbach berichtet über ihre eigenen Ängste und fährt fort:

„Ich denke immer wieder über diese Empfindungen nach, und ich glaube, sie entspringen einer Art unbestimmten und subkutan gespeicherten Auffassung, im Prinzip in der Welt keine Daseinsberechtigung zu haben.
Es handelt sich um jene in den verborgenen Poren des Körpers abgelagerten Erfahrungen der Missachtung, die von Frauengeneration zu Frauengeneration weitergegeben werden. ……. Traumaforschung wie Epigenetik zeigen, dass Verwundungen, schwere wie weniger schwere, weitergegeben werden, sich in der Psyche, aber auch im Körper, festsetzen können.“

(ein Schichtkuchen, der durchgeschnitten und aufs Neue gebacken wird, immer wieder; und anreichert, was uns in der Tiefe formt).

VII.
1928 wird Virginia Woolf eingeladen, vor der Arts Society am Newnham College in Cambrigde über „Frauen und Literatur“ zu sprechen. Sie nennt ihren Vortrag „A Room of One’s Own“ (Ein Zimmer für sich allein).

(Virginia Woolf, die berühmte Schriftstellerin, Bestsellerautorin, literarische Erneuerin ihrer Zeit, litt ihr Leben lang an Depressionen und tiefer Verunsicherung über die Qualität ihres Schaffens).

Sie spricht nicht über Literatur. Sie erzählt nicht, welche Frau welchen vielleicht interessanten Roman geschrieben hat und was sie dem Publikum damit sagen will.

Woolf erzählt davon, dass Frauen verboten wird, den Rasen zu betreten, den die Fellows des Colleges für sich in Anspruch nehmen (Frauen nehmen den Kiesweg); sie spricht über das Verbot, die Bibliothek ohne männliche Begleitung zu betreten; sie spricht über die fetten Fasane, den Wein und die Puddings, die den Studenten der reichen Colleges (viel Geld von wohlwollenden Unterstützern) zum Abendbrot serviert werden, während es eine dünne Suppe in den Frauen Colleges gibt (deren Existenz schon deshalb ein Wunder ist, weil männliche Mäzene Frauenbildung nicht fördern).

Die Liebe der Männer füreinander, nennt Franziska Schutzbach das Phänomen, dass Männer sich einander bejubeln, mit Aufmerksamkeit beschenken und sich selbst als Gegner noch lieben. Männer fördern Männer (dazu können auch die Statistiker einiges sagen).

Aber, ruft Virginia Woolf aus einem Oktobertag des Jahres 1928 in unsere Zeit herauf,

“A women must have money and a room of her own in order to write fiction”.

“Ja”, ruft es aus den Jahrtausenden zurück, „aber haben Frauen ihrer Natur nach nicht ganz andere Aufgaben?“

VIII.
Eine Wand aus hellbraun rötlichen Blättern. Breite, hoch gewachsene Gräser in derselben Farbe. Inmitten der monochromen Fläche steht eine junge Frau, an ihrer Seite ein Eimer. Ich sitze auf einer Bank ohne Lehne und blicke auf die Leinwand.

Vumbi heißt die 2012 entstandene Videoarbeit der kanadisch-multikulturellen Künstlerin Kapwani Kiwanga. Vumbi ist Swahili und bedeutet Staub.

Roter Staub bedeckt den Teil der Landschaft, die das Video abbildet, in Tansania während der Trockenzeit. Unterschiedslos färbt der Staub alles so gleichmäßig ein, dass ich zunächst denke, der Baum, die Blätter die Gräser, seien eine Installation aus Wachs oder aus Stoff.

Die junge Frau, die inmitten der monochromen Fläche steht, ist die Künstlerin selbst, Kapwani Kiwanga.

Mit einem Lappen, den sie immer wieder in ihren Eimer taucht, wischt Kapwani Kiwanga die Blätter ab.

Sanfte Gesten, die Blatt um Blatt vom Staub befreien. Sorgfältig geht sie vor, fast zärtlich, während von irgendwoher Verkehrslärm ertönt, die Stimmen anderer Frauen zu hören sind. Unendlich langsam zeigt sich eine grüne Spur inmitten der einfarbigen Fläche. Es wird etwas sichtbar, was verborgen war, es ist etwas hörbar, das nicht zu sehen ist. (Die Betrachtende stellt fest, ihre Wahrnehmung war von Fehlannahmen geleitet).

Ein einleitender Essay im Ausstellungskatalog zitiert bell hooks:

„Um wahrhaft visionär zu sein, müssen wir unsere Vorstellungskraft in unserer konkreten Realität verwurzeln und gleichzeitig Möglichkeiten ersinnen, die über diese Realität hinausgehen.“

Zur Arbeit „Vumbi“ lese ich dort:

Die Handlung des Abwischens scheint absurd, wird ihr Ergebnis doch in absehbarer Zeit wieder durch neuen Staub ausgelöscht. ……. Dabei werden die sanften Bewegungen des Säuberns und die Aufmerksamkeit, die jedem einzelnen Blatt gewidmet wird, gerade vor der Kurzlebigkeit dieses Schicksals zu einem intimen Moment der Fürsorge.

Nein, denke ich, das stimmt nicht. Das Schicksal einer Person mag kurzlebig sein. Das Schicksal einer Familie, eines Stammes, einer Nation, das Schicksal weiblich gelesener Menschen aber ist alles andere als kurzlebig.

(ein Schichtkuchen, der durchgeschnitten und aufs Neue gebacken wird, immer wieder; und anreichert, was uns in der Tiefe formt).

(Traumaforschung wie Epigenetik zeigen, dass Verwundungen, schwere wie weniger schwere, weitergegeben werden, sich in der Psyche, aber auch im Körper, festsetzen können.)

Wir verändern alles, indem wir mit Zärtlichkeit Blätter abwischen, Neugeborene halten, Räume der Weichheit schaffen, einander die Hand reichen, Geschichten erzählen, in denen der Rasen betreten wird von Frauen, die Zigarren rauchen, Puddings essen und Fasane rösten, die Etiketten in der Luft zerreißen, neue Dimensionen auftun und laut rufen: weder – noch.

Ja, ruft bell hooks, denn auch wenn sie seit kurzem tot ist, hat sie noch lange nicht aufgehört, zu denken.

Wir sind in unserer konkreten Realität verwurzelt und gehen über sie hinaus, und wenn wir den Staub wieder und wieder abwischen, sorgfältig, zärtlich, wird er eines Tages nicht wieder kommen.

Nie mehr.

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