Versuch über Gebrauchsanweisungen

Wie gelingt es mir, mich nicht davon verschlucken zu lassen, wenn die Lebensumstände fordernd sind oder zehrend, und ganz und gar nicht so, wie ich es gerne hätte?

Die Frage kenne ich gut und höre sie oft. In ihr klingt der Wunsch nach einem Rezept.

Ich selbst hätte gerne eine Gebrauchsanweisung gehabt: Mach dies oder jenes, dann kommt folgendes Ergebnis raus. In etwa wie eine mathematische Gleichung OHNE Unbekannte.

Keine*r hat mich mit so einer Gebrauchsanweisung versorgt. Gleichzeitig hat keine*r gesagt, dass es so eine Gebrauchsanweisung nicht gibt.

Also bin ich auf der Suche nach der Gebrauchsanweisung hierhin gelaufen und dahin und habe mir das angeeignet, was ich meinen inneren Rolls Royce nenne.

Die größte Investition meines Lebens war und ist die in mich. Ob ich von dem Geld etwas hätte einsparen können, weiß ich nicht. Zum jeweiligen Zeitpunkt fühlte es sich immer so an, als würde ich genau das Richtige tun.

Heraus kam u.a. die Erkenntnis, dass sich eine Gebrauchsanweisung skizzieren lässt.

Sie nutzt allerdings nix, wenn die Patientin die verschriebenen Mittelchen nicht nimmt. Oder die Verschreibung gar nicht erst hören will.

Mary Oliver erkennt das in diesen Zeilen ihres Gedicht „The Fire“

Those days I was willing, but frightened.
What I mean is, I wanted to live my life
but I didn`t want to do what I had to do
to go on, which was: to go back.

Der Titel eines Jugendbuchs (vergriffen) von Valentin Krayl:

Machen ist wie wollen, nur krasser,

hat mich die Tage ins Tun geflasht.

Was für ein toller Spruch.

Es ist gut, sich mit Cheerleader Weisheiten zu umgeben, yeah!, in welcher Form auch immer. Und manchmal brauchen wir professionelle Hilfe, um das Anfangen zu wagen.

Ohne einen Willen, mit der Veränderung ernst zu machen, ist jede Gebrauchsanweisung sinnlos.

Meine Gebrauchsanweisung besteht aus vier Punkten oder, vielleicht besser, vier Wegweisern. Sie haben keine bestimmte Ordnung / Reihenfolge. Nacheinander, nebeneinander. Wie es gerade passt. Vor allem: Immer wieder von Neuem. Ich höre das selbst nicht gern, doch genauso ist es.

Nein, es handelt sich nicht um eine einfache mathematische Gleichung mit garantiertem Ausgang. In der Gleichung steckt ein Haufen Unbekannter.

Zum Beispiel die Intensität meines Widerstands. Die Konsequenz meines Handelns. Die Zusammensetzung meines inneren Teams, das möglicherweise (teilweise) eine Agenda hat, von der ich nichts weiß.

Die Unbekannten kennenzulernen und sie zu integrieren, ist Teil des Prozesses. (Eine meist mühsame Angelegenheit). In welcher Weise dies geschieht, lässt sich nicht vorhersagen. Jeder Weg ist radikal individuell. Jeder Schritt wird zum ersten Mal gesetzt. 

Ich war beglückt, als ich die Zen Formulierung „Pathless Path“ fand.

Wenn ich den pfadlosen Pfad gehe, kann ich mir Wertungen wie richtig oder falsch, besser oder schlechter für meinen Zustand schenken. Noten werden nicht vergeben. „DAS“ Ziel gibt es nicht.

Wie oft im Leben hast du dich gefragt, ob du da richtig bist, wo du bist oder ob du etwas falsch gemacht hast oder für etwas bestraft wirst und wenn ja, (für) was?

Der 1. Wegweiser

Was würde passieren, wenn du einfach mal zu deinen Gunsten annimmst, du bist immer auf deiner Spur (obwohl du vielleicht lieber Beyoncé wärst oder Lady Gaga oder Rufus Wainwright oder deine Nachbarin mit dem schicken Verehrer, der schicken Verehrerin)?

Caroline Myss steuert Punkt 1 meiner Gebrauchsanweisung bei:

1. From the moment you are born, you are on your track. You can’t get off your track. So just keep that in your mind.

Ja, bitte immer im Sinn behalten. Und prüfen, ob der Gedanken hilfreich ist oder sein könnte.

Der 2. Wegweiser

Am zweiten Wegweiser komme ich mehr oder weniger ständig vorbei. (Immer noch 🙄 ) . Es hilft alles nichts, der Weg führt nicht zum Versuch, etwas zu reparieren oder in Ordnung zu bringen. Selbstverständlich müssen wir uns um das kümmern, was unmittelbares Handeln verlangt. Doch das ist eine andere Geschichte.

Was wäre, wenn du aufhörtest, an dir herumzumäkeln?

Clark Moustakas formuliert Punkt 2 meiner Gebrauchsanweisung kompromisslos-knackig:

2. Accept everything about yourself – I mean everything. You are you, and that is the beginning and the end – no apologies, no regrets.

Alles akzeptieren, was ich selbst mir zumute. I mean: everything.

Uff. Macken, Eigenheiten, Sabotagen. Ich und das, was in genau diesem Augenblick ist, sind die Arbeitsgrundlage.

(Radical Acceptance heißt ein sehr lesenswertes Buch von Tara Brach; deutsch: Mit dem Herzen eines Buddha: Heilende Wege zu Selbstakzeptanz und Lebensfreude).

Der 3. Wegweiser

Eckhardt Tolle hat mir schon ein paar Dutzend Mal das Leben gerettet. Ernsthaft. Weil er mich immer wieder an Punkt 3 meiner Gebrauchsanweisung erinnert.

Was wäre, wenn du aufhören würdest, das, was dir widerfährt, zum Mittelpunkt der Welt zu machen und darum zu kreisen?

3. Du bist nicht deine Lebensumstände.

Eines meiner Lieblingsworte: De-Identifikation. Meint: Beobachten, was passiert, ohne sich (zu sehr) darin zu verwickeln.

Vorbilder, die schwierige bis entsetzliche Lebensumstände überlebt haben, können hier hilfreich sein. Viktor Frankl, der nach Jahren im KZ „Trotzdem ja zum Leben“ schreiben kann, Edith Eger, Malala Yousafzai. Die Liste ist lang.


Der 4. Wegweiser

Vielleicht ist die Nummer vier meiner Gebrauchsanweisung den anderen etwas nachgeordnet. Doch manchmal reicht schon eine Ahnung, wer ich bin oder sein könnte, um dafür zu kämpfen, nur ich zu sein.

Was wäre, wenn du die Spielregeln der Welt weniger ernst nehmen und dich weniger vergleichen würdest?

Das Zitat von E.E. Cummings kennst du schon aus dem letzten Freitagsbrief:

4. To be nobody-but-yourself — in a world which is doing its best, night and day, to make you everybody else — means to fight the hardest battle which any human being can fight; and never stop fighting.

Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie ich auf die Sache mit der Gebrauchsanweisung gekommen bin. Vorgestern schrieb ich noch an einem ganz anderen Brief.

Möglicherweise hat mich die wunderbare Carina Schimmel inspiriert, die mich mit ihrem jüngsten Newsletter daran erinnerte, Kreativität ihrem eigenen Flow folgen zu lassen.

Was will gerade durch dich in die Welt kommen,

fragt sie. Und vielleicht ist das so etwas wie ein 5. Wegweiser.

Mich würde interessieren:

Was ist deine Gebrauchsanweisung? Was sind deine Cheerleader Sätze? Welche Vorbilder hast du? Schreib deine Ideen in den Kommentar.

Wenn du mit meiner Gebrauchsanweisung nichts anfangen kannst, vergiss sie gleich wieder. Denn es kommt nicht darauf an, was ich oder jemand anderes sagt, es kommt auf dich an.

Der chassidische Meister Sussja fasst das auf seinem Totenbett so zusammen:

Mein ganzes Leben habe ich mich mit anderen verglichen. Aber in der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Mosche gewesen? Man wird mich auch nicht fragen: Warum bist du nicht David gewesen? Man wird mich fragen: Warum bist du nicht einmal Sussja gewesen?

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Dieser Text erschien zuerst als #Freitagsbriefe Essay am 24. Februar 2023. Wenn du mehr über die #Freitagsbriefe erfahren möchtest, lies hier weiter.

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#freundlicheökonomie

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