Radikale Selbstverantwortung

Von blauen Hunden, Ampeln und Freudemomenten

Ein schöner, heller Tag, und Ruhe auf der mehrspurigen Fahrbahn, die die Kunsthalle vom Hamburger Hauptbahnhof trennt. Kein Wagen weit und breit, als ich bei Grün die Kreuzung überquere. Auf der anderen Seite wartet ein Mann. Er fängt an, zu schimpfen. Ich laufe in eine Kanonade von Vorwürfen hinein. Dass ich bei Rot über die Straße gehe!

Was der Mann nicht bedenkt: die Ampelphasen für Fußgänger*innen sind unterschiedlich geschaltet. Er sieht ein rotes Ampelmännchen in seiner Richtung. In meiner ist es – grün. Ich bin empört. Gifte zurück. Möchte, dass er kapiert – was ich auch erst nach einigen Irritationen herausgefunden hatte – seine Ampelperspektive ist nicht das Maß der Dinge.

Ich halte mich an die Straßenverkehrsordnung, die ein selbst ernannter Hüter sinnlos verteidigt.

Es ist 1. ungerecht und 2. unfair. 1. ungerecht und 2. unfair.  1. 2. …. Das erzähle ich mir in sich wiederholenden Schleifen, während ich den Weg fortsetze.

Der Ärger nimmt nicht ab, ich trage ihn ins Mittagessen mit einer befreundeten Kollegin. Als ich berichte, wie ich angeschrien wurde, konfrontiert sie mich mit einer psychologisch möglicherweise sinnvollen Intervention, für die ich allerdings noch nicht bereit bin. Jetzt trage ich auch noch eine weitere Verärgerung mit mir herum. Ich grolle der Freundin, weil ich mich nicht gesehen fühle.

Der Don Quichote der Fußgängerampeln hat mir gründlich den Tag verdorben.

Hat er wirklich?

Michael A. Singer ist ein spiritueller Lehrer und Computer Nerd. Als junger Mensch kaufte er für viel Geld den ersten Computer, der im Laden erhältlich war. Er nahm ihn auseinander. Baute ihn wieder zusammen. Gründete ein Unternehmer. Wurde reich im Computer Geschäft. Irgendwann baute er einen Tempel mitten in den Wald.

Dort sitzt er mit verknoteten Beinen und hält einen Vortrag, dessen Aufzeichnung ich mir anschaue. Singer hat auch den menschlichen Geist auseinandergenommen wie seinen Computer. Er ist ein Meister der Dekonstruktion. Er lacht viel beim Sprechen.

In seinen Büchern beschreibt er Methoden, die helfen, den eigenen Verstand zu dekonstruieren.

Mein Lieblingsbeispiel: „Sagen Sie still etwas vor sich hin, von dem Sie wissen, dass es nicht wahr ist. Etwa „Mein Hund ist blau.“ Stellen Sie fest, dass Ihr Verstand nicht das geringste Problem damit hatte, diesen Satz auszusprechen? Sie sind sich vielleicht nicht darüber im Klaren, aber Ihre innere Stimme sagt häufig Dinge, die nicht wahr sind ….. Ihre Verantwortung besteht darin, nicht alles zu glauben, was er den lieben langen Tag von sich gibt“.

Blaue Hunde

Für mich sind Blaue Hunde Situationen, in denen ich die Energie, die ich habe und die Kraft und die Macht, mein Leben zu gestalten, weggebe.

Wie gebe ich sie weg?

Indem ich andere Menschen für meine Reaktionen verantwortlich mache. Das bedeutet nicht weniger, als dass ich ein Opfer der Umstände werde.

Wer regiert meine Welt? Die Umstände oder ich?

Ist das also ein blauer Hund, wenn ich sage, mir hat ein anderer Mensch den Tag verdorben oder meine gute Stimmung weggenommen oder mir die Freude durchkreuzt, von der ich dachte, ich hätte sie fest in der Hand?

Ich würde sagen: ja.

Im Zen Buddhismus wird die Geschichte erzählt von einem jungen und einem alten Mönch auf der Wanderschaft. Sie kommen an einen reißenden Fluss. Eine junge Frau steht am Ufer und bittet die beiden, ihr hinüberzuhelfen. Sie müsse dringend zu ihren alten Eltern, doch in ihrer Abwesenheit sei der Fluss so angeschwollen, dass sie ihn aus eigener Kraft nicht durchqueren könne. Der alte Mönch packt die Frau, trägt sie durchs Wasser und setzt sie am anderen Ufer wieder ab. Die Mönche wandern weiter. Viele Stunden später sagt der Junge zum Alten: „Wieso hast du die Frau durchs Wasser getragen? Es ist uns verboten, Frauen zu berühren“. Der Alte antwortet: „Ich habe sie am anderen Ufer abgesetzt. Du trägst sie offenbar immer noch“.

Ich habe diesen wenig freundlichen Menschen, der mich an der Ampel erwartete, den ganzen Tag mit mir herumgetragen.

Das hat mir keine*r aufgetragen.

Das habe ich mir ganz allein selbst aufgehalst.

Ich hätte die Begegnung fortlachen können.

Ich hätte freundlich sagen können, machen Sie sich keine Sorgen.

Ich hätte schweigen, atmen und dem zornigen Mann gute Wünsche schicken können.

Stattdessen: habe ich die Entscheidung getroffen, meinen eigenen inneren Mustern zu folgen und mich in die Gerechtigkeitsfrage zu verstricken. Da bin ich empfindlich. Da bin ich verwundbar.

Als Kind musste ich Willkür und Ungerechtigkeit erdulden.

Das Kind kämpft immer wieder mal den alten Kampf.

Wenn ich mich nicht darum kümmere, öffnet sich der Resonanzraum für Stressreaktionen.

Da bin ich dann selbst Don Quichote bei den Windmühlenflügeln und kämpfe gegen Riesen.

Innerhalb dieser Strukturen erwarte ich, dass der Rest der Menschheit Rücksicht auf meine Befindlichkeit nimmt. (Alle müssen Dulcinea dienen). Allein in Deutschland wären das rund 80 Millionen, die sich bitte nach meiner Idee von gerechtem und fairem Verhalten einstimmen sollen.

Allerdings: der Mensch auf der anderen Seite der Straße kämpfte ebenfalls gegen Riesen, als ich in seiner Wahrnehmung die Ordnung störte.

Denn: Keine*r stellt sich so an, wenn er/sie nicht ebenfalls tief getroffen ist im verletzlichen Resonanzraum. Da hätten wir also schon zwei, die den Rest der Menschheit auf Rücksicht verpflichten wollen.

Ungewissheit ertragen

Rebecca Solnit zitiert in ihrem Essay „Die Kunst, sich zu verlieren“ den britischen Dichter John Keats mit seiner Betrachtung, die Eigenschaft, die einen Menschen bedeutend mache, sei die Befähigung, das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen. Ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen. 

Das Ungewisse zu ertragen, bedeutet für mich, selbst zu verschwinden. Zu verschwinden mit den Strukturen und Formen, die mich geprägt haben, mit den blauen Hunden und den Hürden, die ich mir in den Weg stelle, immer dann, wenn ich vergesse, dass ich die Herrin bin in meiner inneren Welt.  

Wenn ich nicht in diesem Sinne verschwinde, packe ich unangenehme Begegnungen in meinen Rucksack, trage sie durch die Gegend und greife aufgeregt nach Fakten und Verstandesgründen, die mich ins Recht setzen, um mit Keats zu sprechen.

Nicht wenige Menschen tragen umfangreiche Rucksäcke mit sich herum, in denen uralte Erinnerungen lagern, die mit weiteren ähnlichen Erfahrungen und gerne auch mit ständig wiederholten Erzählungen angereichert werden.

Henry David Thoreau schreibt in Walden, erst, wenn wir die Welt verloren haben, fangen wir an, uns selbst zu finden und gewahr zu werden, wo wir sind und wie endlos ausgedehnt unsere Verbindungen sind.

Wenn ich also innehalte, den Rucksack ablege und mich für ein paar Atemzüge löse vom äußeren Kontext, spüre ich, was mich bewegt und in welcher Weise das meine Begegnungen in und mit der Welt beeinflusst.

Radikale Selbstverantwortung. Keinem anderen was überstülpen. Reiz-Reaktionsschema unterbrechen.

Wie soll das denn gehen?

Wenn es um Konflikte geht, sagt Caroline Myss in dem Kurs, den ich gerade bei ihr belegt habe, ist die zentrale Frage:

Is there a more loving way to see this moment?

Ihre Antwort:

There always is.

Sich wieder und wieder erinnern an den liebenden Blick auf die Welt, auf den Menschen, der uns gerade gegenüber steht. Wenn wir das tun, glaube ich, passiert, was Mary Oliver in den ersten Zeilen ihres Gedichts „The Journey“ beschreibt:

“One day you finally knew what you had to do, and began,
though the voices around you kept shouting their bad advice,”

/Eines Tages wusstest du schließlich, was du tun musstest, und du fingst an, trotzdem die Stimmen um dich herum fortfuhren, ihre schlechten Ratschläge zu rufen.

Also: Dekonstruktion. Blaue Hunde identifizieren. Neue Gewohnheiten einüben.

Zum Beispiel Freude zur Gefährtin erküren.

Freude als Begleiterin hilft uns, alte Rucksäcke abzulegen. Warum? Lies hier ein Manifest der Freude nach. Außerdem, eine wundervolle weitere Reise auf der Spur der Freude beginnt am 24. Juni 2022.


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