Die hässlichsten Stühle der Welt

Im Wald konnte ich vor einiger Zeit einen Skarabäus beobachten. Er rollte seine dunkle Kugel, sie wurde größer mit jeder Umdrehung, schließlich rutschte er von ihr ab. Verharrte einen Moment neben dem Zwischenergebnis seiner Arbeit. Perspektivwechsel.

Draußen ist der November grau, windig und nass. Erst in den letzten Tagen hat er sich auf die ihm zugedachte Rolle besonnen, bis dahin nach der Morgenkühle Sonne, und die Luft duftete mit einem Versprechen.

Veränderung jeden Tag. Der Walnussbaum streut seine gelben Blätter über meinen Beeten aus. In einem Moment ist die Terrasse gefegt, im nächsten bedeckt von Nussschalen, kleinen Ästchen und Laub. Nur noch wenige Wochen, bevor uns das zunehmende Licht die Helligkeit zurückbringt. Der Baum lässt sich ein neues Kleid wachsen.

Ich drehe und wende das Thema, über das ich so gerne nachdenke, wie bunte Steinchen eines Kaleidoskops.

Veränderung ist das Schwerste. So viele Veränderungen vollziehen sich in den letzten Jahren, so viel Erschütterungen erfassen das, was nicht erschütterbar schien.

Warum ist Veränderung bloß so schwer?

Weil wir an so vielen Ankern hängen. Weil wir das oft nicht einmal merken. Weil wir die Kontrolle behalten wollen. Weil wir dickköpfig sind. Weil wir uns sogar darüber aufregen, dass die Haare zu schnell oder zu langsam wachsen, dass der Herbst mit seiner Blätterlast so viel Arbeit macht und der Rotschwanz zu laut singt.

Die Natur folgt den Gesetzen des Werdens und Vergehens, der Ursache und der Wirkung. Wir sind ein Teil der Natur. Doch wer will davon wirklich wissen?

Leonardo da Vinci zeichnete Ende des 15. Jahrhunderts die Gestalt eines nackten Mannes, die von einer fast identischen Figur überlagert wird, lediglich die Arm- und Beinhaltung unterscheiden sich. Der eine sogenannte „Vitruvianische Mensch“ steht in einem Quadrat, der andere in einem Kreis. Beide Formen sind in kraftvoll-eleganter Weise ausgefüllt. Der Mensch in ihrem Mittelpunkt, als Maß aller Dinge, von dessen Proportionen seit der Antike die Maßeinheiten abgeleitet wurde. Doch täuscht die Ästhetik der Darstellung nicht darüber hinweg, dass die Form den Menschen bestimmt. Was nutzt mir die schönste Symmetrie, wenn sie mir verbietet, wild und maßlos zu wachsen wie ein freistehender Baum?

Kreis oder Quadrat. So werden wir in ein System hineingeboren. Was man tut. Was man lässt. Wen man mag. Wer mit Misstrauen beäugt, ablehnt oder verachtet wird. In welche Kirche man geht. Bei welcher Partei am Wahltag das Kreuz passt. Was für einen Charakter die Großmutter hatte und ob Onkel Willi einer war, über den Stillschweigen bewahrt wird. Welche Berufe akzeptiert werden, welche Träume darauf warten, ins Leben gebracht zu werden.

An diesem Anker der Familien DNA hängen wir von Anfang an. Oft ist er derjenige, den wir am längsten festhalten. Blut ist dicker als Wasser. Sagt unsere kulturelle Prägung. Ein weiterer Anker, der schwer wiegt. Wir wollen nicht nur auf Familienebene dazu gehören und sorgen gleichzeitig dafür, dass nicht so viele kommen können, die in einem anderen Kreis oder Quadrat aufgewachsen sind. Dafür haben wir Landesgrenzen. Nationale Anker.

Persönliche psychische Belastungen, von anderen Familienmitgliedern oder Vorfahr*innen erlittene Traumata, traumatische Belastungen einer Volksgruppe oder Nation, weitere Anker. Das, was wir uns und anderen über unser Leben erzählen und ständig wiederholen, ein Anker. Das, was wir um jeden Preis erreichen wollen, ein Anker.

So fest sind wir verzurrt, dass unser Handlungsspielraum klein ist. So klein ist unser Handlungsspielraum, dass wir glauben, wir sind der Mittelpunkt der Welt. Wir sind eher selten in der Lage, über den Tellerrand unserer Prägungen und Überzeugungen blicken.

Buddha lehrt, dass unsere Anker, unsere Prägungen und Überzeugungen, Illusionen sind. Dass das, was wir für alternativlos halten, sich in einem winzigen Augenblick von Grund auf ändern kann.

Ich denke an die Geschichte der verzweifelten Mutter, die von Buddha verlangt, ihr totes Kind zu heilen. Er sagt, ich kann dir helfen, wenn du mir einen Senfsamen aus einem Haushalt bringst, in dem noch kein Mensch gestorben ist. Die Frau geht von Tür zu Tür. Alle sind bereit, ihr Senfsamen zu geben. Doch haben alle die endgültigste Form des Wandels, den Tod, bereits kennen gelernt.

Je mehr wir in unsere Anker verstrickt sind, desto öfter müssen wir an Türen klopfen, nur, um zu erfahren, dass, bei allem Mitgefühl, Hilfe nicht möglich ist. Das ist das letzte, was wir hören wollen.

Wir wollen beharren, auf einen Standpunkt, auf das Recht, auf die Richtigkeit, in ewig gleicher Wiederholung der Hoffnung, dass wir am Ende unseren Willen durchsetzen. Wir werden nicht müde, warum zu fragen. Warum ist die Welt/das Leben/dieser Mensch so? Warum har er/sie so etwas getan?

Wie oft bin ich selbst im Beharren stecken geblieben.

Wenn ich zum Bahnhof fahre, komme ich an einem Haus vorbei, in dem die junge Familie an der Straßenseite ein großes Fenster herausgebrochen hat. Dort ist nun das Wohnzimmer eingerichtet, ohne Vorhänge. Jedes Mal, wenn mein Blick in dieses Wohnzimmer fällt, denke ich: „Das sind die hässlichsten Stühle der Welt.“ Dann muss ich lachen. Weil ich immer wieder auf meinen Geschmack beharre. Das mag wie eine Kleinigkeit erscheinen. Doch bleibt es eine Abwertung dessen, was die Menschen, die dort leben, für sich geschaffen haben.

Veränderung ist das Schwerste, weil wir uns von so viel befreien müssen. Weil sie so viele unterschiedliche Bereiche erfasst, in denen wir mit unseren Ankern hängen. Weil wir aufhören, uns auf das zu berufen, was andere gesagt haben und selbst Verantwortung übernehmen. Weil wir mit jedem Anker, den wir lockern, weniger Gewissheit haben und mehr Vertrauen brauchen.

Jeder persönliche Schritt in die Befreiung wirkt auf das Kollektiv. Als Kind sah ich den Film „Rat mal, wer zum Essen kommt“. Er zeigt, was alles ins Rollen kommt, wenn die Grenze fällt, die zwischen Menschen verschiedener Rassen errichtet wurde.

Indem wir Anker ziehen, nehmen wir Polaritäten die Nahrung. Das ist genau das, was unsere Zeitalter braucht.

Dieser Text erschien erstmalig als #Freitagsbriefe Essay am 11. November 2022. #freitagsbriefe kannst du abonnieren. Als kostenfreien Archivbrief oder druckfrisch im Crowdfunding Modell, um meine Arbeit zu unterstützen. Wenn du mehr über die #Freitagsbriefe erfahren möchtest, lies hier weiter.

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