Die eigene Wut befreunden

Be the change you want to see in the world,

Ist ein Rat Mahatma Gandhis.

Das einzige auf der ganzen Welt, auf das wir immer Einfluss haben, ganz unabhängig von den äußeren Umständen, das sind wir selbst.

Also hands on und sich um die eigenen schlechten Stimmungen kümmern. Wut zeigt sich in vielen Facetten. Manchmal ist sie groß und gewaltig, dann bräuchte sie wahrscheinlich externe Unterstützung für die Regulierung. Kleinere Wut- und Ärgerereignisse, die immer wieder in der mehr oder weniger gleichen Art auftreten, lassen sich allerdings ganz gut selber anschauen. Die Wut wird befreundet, wenn wir uns um sie kümmern, im besten Fall verschwindet sie im Zusammenhang mit dem bestimmten Ereignis, bei dem sie sonst regelmäßig zu Gast war. Zumindest ist es mir selbst vor Jahren so ergangen, als ich die Übung entwickelte, die ich dir heute vorstelle.

Ich habe sie die Fahrrad Übung genannt. Entstanden ist sie, als ich feststellte, wie sehr ich mich beim Fahrradfahren über (verbotenen) Gegenverkehr auf der Fahrradspur, unbedacht querende Fußgänger oder forsch unachtsame Autofahrer*innen aufregte, und zwar unabhängig davon, ob das Verhalten der anderen mich gefährdete oder nicht.

Ich fand meine Wut außer Verhältnis zum Anlass, vor allem hielt sie viel zu lange an. Deshalb begann ich, die Fahrrad-Wut zu untersuchen.

Anleitung Fahrradübung

1. Nimm ein wiederkehrendes Verhalten, das dir unangemessen intensiv im Verhältnis zum jeweiligen Anlass vorkommt. Bei der Übung ist nicht ausgeschlossen, dass du schnell Erkenntnisse gewinnst. Allerdings ist sie insbesondere darauf angelegt, über einen gewissen Zeitraum angewendet zu werden. Sie hilft dir, von der Oberfläche in immer tiefere Schichten vorzudringen, wie bei einer archäologischen Grabungsarbeit. Regelmäßig zeigt sich erst nach dem Freilegen der oberen Schichten die tatsächliche Wurzel deines Verhaltens.

2. Der erste Schritt der Selbsterkundung: Beobachte, wann, wo, in welchen Zusammenhängen das Verhalten ausgelöst wird.

Welche Menschen, Dinge oder Umstände sind beteiligt, in welchen Situationen tritt es auf? Notiere deine Erkenntnisse, sei neugierig wie eine Forscherin, ein Forscher. Erkennst du ein Muster, eine Gesetzmäßigkeit?

3. Der zweite Schritt der Selbsterkundung: Erforsche deine Gefühle. Wie fühlst du dich in den Momenten, in denen das Verhalten auftritt  und wie danach? Z.B.: wütend, hilflos, enttäuscht?

Erkunde das Gefühl sehr genau. Als erstes, sei einfach mit dem Gefühl. Atme und bemerke: da ist Wut, da ist Enttäuschung, da ist Hilflosigkeit etc.. Als zweites spüre der körperlichen Qualität des Gefühls nach. Gibt es eine bestimmte Stelle in deinem Körper, an der du das Gefühl am meisten spüren kannst? Ist es eher warm oder eher kalt, ist es rund oder eckig, fest oder wolkig? Hat es eine Farbe?

Schreib alles auf, was dir herausfindest.

Wenn du auf diese Weise erkundend mit dem Gefühl bist, und dir sagst – da ist und das Gefühl benennst, beginnst du, deine Identifikation mit dem Gefühl zu lockern. Du kannst MIT dem Gefühl sein, doch du bist nicht dieses Gefühl. Wenn du das Gefühls in deinem Köper verortest und bestimmte Eigenschaften des Gefühls herausfindest, verstärkt dies den Prozess der De-Identifikation.

4. Der dritte Schritt der Selbsterkundung: Welche Gedanken, welche Bewertungen hängen mit dem Gefühl zusammen? Notiere alles, was dir dazu einfällt.

Gefühle sind das Ergebnis der darunter liegenden Gedanken, die wir gar nicht bewusst wahrnehmen. Die Bewertung eines Ereignisses, das entsprechende gefühlsmäßige Reaktionen nach sich zieht, erfolgt gewohnheitsmäßig und also außerhalb der bewussten Sphäre. Deshalb bemerkst du zunächst gar nicht, was der eigentliche Auslöser für deine Reaktion ist.

5. Der vierte Schritt der Selbsterkundung: Wenn ich mich so fühle/so reagiere, wie alt bin ich dann? Erwachsen, dem heutigen Lebensalter entsprechend, oder bin ich jünger, vielleicht ein kleines Kind?

Wenn du einen jüngeren Anteil entdeckst, der der Situation gar nicht gewachsen sein kann, ist es deine Aufgabe als erwachsener Mensch, dich um diesen Anteil zu kümmern. Wenn dir das schwer fällt oder die Gefühle des jüngeren Anteils dir bedrohlich vorkommen, kann es eine gute Idee sein, sich professionell unterstützen zu lassen.

Kümmern bedeutet auch, in einen inneren Dialog mit dem Anteil zu gehen, der hinter den Reaktionen steht. Es kann sehr beruhigend sein, die Gefühle des Anteils anzuerkennen und gleichzeitig zu sagen, dass du dich als erwachsener Mensch nun kümmerst, weil das keine Aufgabe für ein Kind ist. Es ist hilfreich, solche inneren Dialoge schriftlich zu führen.

Anmerkung: Die Schritte zwei bis vier der Selbsterkundung lassen sich nicht immer trennen, du kannst sie zusammen oder in einer anderen Reihenfolge anwenden.

Und was habe ich herausgefunden über meine Fahrradwut?

Nachdem ich eine Zeitlang meine Reaktionen und Gefühle beobachtet hatte, stellte ich fest, wie ich unbewusst die Situationen bewertete und zwar jeweils ein bisschen anders, je nachdem, wer daran beteiligt war. Diese Erkenntnis alleine war schon sehr interessant.

Tief unter den unbewussten Bewertungen zeigte sich dann nach weiterem Üben die panische Angst des kleinen Kindes vor Regelverletzungen (was ja kein im Hinblick auf die Geschichte mit dem Zwiebelschneiden nicht weiter verwunderlich ist). Als ich das begriffen hatte, konnte ich mich um das kleine Kind kümmern.

Das Resultat: ich bin nicht mehr wütend, wenn andere die Regeln verletzen. Allenfalls rege ich mich manchmal noch auf, wenn ich mich selbst tatsächlich gefährdet fühle. Doch das geht schnell vorbei.

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