Wann hast du das letzte Mal nach oben geschaut? Oder aus dem Fenster? Was hast du gesehen? Wie oft am Tag oder in der Woche fällt dir auf, dass über deinem Kopf der Himmel sich aufspannt mit einem Angebot voller Kuriositäten?
Ich habe zum Beispiel unlängst eine Entenfamilie gesehen, die über einen Zebrastreifen flog, um sich kurz danach in Luft aufzulösen. Ein paar Wolkenformationen für ein paar Augenblicke.
Am 7. August 1974 in New York City blickten ein paar Menschen auf ihrem morgendlichen Weg dorthin, wo sie etwas zu erledigen hatten, nach oben. Es war kurz vor acht. Plötzlich bildeten sich Klumpen, die die Ströme der Eilenden behinderten. Immer mehr Menschen blieben stehen.
„Die ihn sahen, verstummten“. So beginnt Colum McCann seinen Roman „Die große Welt“. Er hat ihn um das herum komponiert, was die Menschen sahen, als sie nach oben schauten am 7. August 1974; und die Art und Weise, wie die Zeugenschaft ihr Leben berührte.
Was hat dich berührt, als du das letzte Mal nach oben schautest?
Anders gewendet, wann hast du dich das letzte Mal bei einem Blick nach oben, ins Kuriositätenkabinett des Himmels, berühren lassen? Oder bei einem Blick aus dem Fenster? Oder bei einem Blick auf deinem Briefkasten?
An jenem schönen Augustmorgen spazierte ein Menschen zwischen den Zwillingstürmen des World Trade Centers hin und her. 417 Meter über dem Boden. 45 Minuten lang. Er legte sich zwischendurch auf den Rücken. Er konnte den Himmel sehen. Viel näher, als die staunende Menge unter ihm. Er blickte auch in den Abgrund, über dem er sich bewegte. Er studierte die Einzigartigkeit der Aussicht nach unten.
Ich glaube, er war ziemlich verrückt.
Der Mann, der zwischen den Zwillingstürmen in New York tanzte und ruhte, heißt Philippe Petit. Er hatte vorher andere Zwillingstürme betanzt: Die der Kirche Notre Dame in Paris und die der Sydney Harbour Bridge. Das war seine Vorbereitung, während er darauf wartete, dass das World Trade Center gebaut wurde.
Ja, er hat auf die Fertigstellung seiner Türme gewartet, seit er sich als 17jähriger in die Idee dieses Gebäudes verliebt hatte. Beim Anblick einer Zeichnung.
Er wartete auf die Fertigstellung, dachte über den Tod nach und stritt mit seinen Freunden über die Machbarkeit seines Plans.
Er arbeitete sich heran.
Ich begegnete Philippe Petit in einem Dokumentarfilm, der 2009 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde.
Den Film habe ich gerade noch einmal gesehen. Wieder fällt mir auf: Wie nahe ein 35 Jahre zurück liegendes Ereignis den Menschen sein kann, deren Leben es durcheinander gerüttelt hat. Petit erzählt mit einer Energie, als habe er „Das künstlerische Verbrechen des Jahrhundert“ (Werbung des Dokumentarfilms) eben erst begangen.
Sein früherer bester Freund und seine frühere Freundin weinen mehrmals während ihrer Interviews. Sie sehen immer noch die Bilder von damals, das merke ich ihrer Erzählung an.
Gibt es in deinem Leben lange zurückliegende Ereignisse, die dich berühren? Berühren diese Ereignisse dich in einer Weise, dass dein Herz singt? Oder fühlst du die Schwere, den Schmerz, die Trauer des Vergangenen? Würdest du gerne etwas daran ändern?
Ich grüble darüber, was die Vergangenheit lebendig hält.
Was ich nach wie vor nicht begreife: Das Wagnis. Wie ein Mensch so besessen sein kann von einer Idee.
Kennst du das? Ein Koste-es-was-es-wolle? Ein Um-jeden-Preis?
Petit sagt, das Seiltanzen sei vom Tod flankiert. Das mache seine einzigartige Schönheit aus.
Was begründet Einzigartigkeit? Welche Zutaten braucht es dafür?
Hast du eine Liste von Einzigartigkeiten in deinem Leben, auch solche, die du vielleicht erreichen möchtest?
Ich glaube, in meinem Leben gibt es nichts Einzigartiges als mein Leben selbst. So, wie ich lebe, hat nie ein anderer Mensch gelebt. Mein Leben wird von keinem wiederholt werden.
Mein Leben – übrigens auch dein Leben: Ein einziger Einmal-im-Leben-Moment. Von der Geburt. Bis zum letzten Atemzug.
In Petits Worten: Das Leben ist vom Tod flankiert. Das macht seine einzigartige Schönheit aus.
Üblicherweise nehmen wir das weniger zur Kenntnis. Üblicherweise schauen wir da nicht so genau hin. Vielleicht wurde Petit nach seiner Verhaftung deshalb einem Psychiater vorgestellt, weil er sehr genau zum Tod hinsah.
Vor ein paar Tagen trat ich morgens vor die Tür und blickte in den Himmel. Der war voller dicker weißer Schäfchenwolken, dicht an dicht so nah, als wollten die Schäfchen in meinem Garten landen.
Ich lief ins Haus und holte die Kamera. Natürlich ist ein Foto nicht mehr als eine Erinnerungshilfe. An diesen Himmel. An diese Wolkenkonstellation. An diesen Einmal-im-Leben-Moment.
Die Katze war mir gefolgt. Sie geht täglich bestimmt zehnmal in den Garten. Für mich sieht es aus, als ginge sie nie in den selben Garten. Jedes Mal: Ein neuer Garten im alten Revier. Die Amsel, die auffliegt. Der Schmetterling, dem sie nachspringt. Die Nachbarskatze auf der anderen Seite der Hecke. Die Holzplanken, an denen sie die Krallen schärft. Die Gerüche, deren Witterung sie aufnimmt. Immer und immer wieder: Ein Einmal-im-Leben-Moment.
Mein Wunsch: von der Katze zu lernen.
Und: Ich möchte mich möglichst oft berühren lassen. Beim Blick in den Himmel. Oder aus dem Fenster. Oder auf den Briefkasten. Durch die Worte meiner Freundinnen und Freunde, die sich das Leben ertasten, Schritt für Schritt, Moment für Moment. Um dann wieder ein bisschen zu sausen und zu schlittern und zu stolpern, von Moment zu Moment. Durch die Begegnung mit den Menschen in meiner Praxis, im Supermarkt, an der Tankstelle, im Wald.
Mein Plan: Jeden Tag mich mindestens einmal zu erinnern an die Einzigartigkeit des Lebens, vom Tod flankiert.
Was denkst du über die Einzigartigkeit des Lebens? Lass gerne einen Kommentar zurück, auf diese Weise wächst der Webseitenwortgarten.
Herzliche Grüße
Eva Scheller