Heute schreibe ich Nr. 80 meiner Anstiftungsbriefe. Ein Jubiläum! Ich finde 80 eine wunderbare Zahl. In 17 Jahren werde ich 80 sein und ich frage mich – schreibe ich mit 80 Jahren noch meine Freitagsbriefe Essays und meine Anstiftungsbriefe?
Zeit für Reflektion.
Deshalb ist der Brief heute länger als sonst. Bear with me, wie es im Englischen so schön heißt. Ertrag mich für den Zeitraum meines langen Atems; hab Geduld mit mir.
Seit Februar 2022 schreibe ich mit wenigen Ausnahmen wöchentlich einen kürzeren Text, der sich mit Freude befasst. Angefangen habe ich damit kurz nachdem mein Vater gestorben war. Um zuerst an seinem Sterbebett zu sitzen und dann an seiner Beerdigung teilzunehmen, verbrachte ich im Januar und Februar 2022 viele Stunden im Zug.
Die zeitliche Nähe zum Tod meines Vaters ist mir aufgefallen, als ich über den Anfang der Anstiftungsbriefe nachdachte. Im Zug hat der Mensch meist genug Zeit, ausführlich nachzudenken. Ich glaube, die Reisen vom Norden in den Süden und zurück haben dazu beigetragen, das neue Projekt in die Welt zu bringen.
Freude braucht grundsätzlich Raum. Freude ist mehr, als ein vorübergehendes Lächeln oder gutes Gefühl. Im Grunde ist Freude eine ernsthafte Angelegenheit. Damit meine ich nicht Schwere, obwohl Freude manchmal und immer wieder Arbeit ist. Freude ist ernsthaft wie Meditation, denn Freude ist eine fortwährende Meditation über das Leben. Freude ist eine innere Haltung, vor allem aber ist sie eine revolutionäre Kraft.
Freude kostet nichts und ist einfach da, sie löst uns aus den Verführungen der Konsumorientierung und den Zwängen der Selbstoptimierung. Sie lehrt uns, dass wir nicht der Mittelpunkt der Welt sind. Sie fördert Mitgefühl für uns selbst und andere. Sie zeigt uns Respekt vor dem vielfältigen Ausdruck von Leben, der uns umgibt.
Hermann Hesse hat in seinem Essay „Kleine Freuden“ skizziert:
„Ein Stück Himmel, eine Gartenmauer, von grünen Zweigen überhangen, ein tüchtiges Pferd, ein schöner Hund, eine Kindergruppe, ein schöner Frauenkopf – das alles wollen wir uns nicht rauben lassen. Wer den Anfang gemacht hat, der kann innerhalb einer Straßenlänge köstliche Dinge sehen, ohne eine Minute Zeit zu verlieren…….. Alle Dinge haben eine anschauliche Seite, auch interesselose oder häßliche.“
Ja, auch in langweiligen oder vermeintlich hässlichen Dingen liegt ein Freudekern.
Freude hat selbst im Schweren nicht nur ihren Platz, sondern hält ein Angebot zur Heilung bereit.
Durch May Sartons (1912 – 1995) Buch „Recovery – A Journal” bin ich auf die Geschichte von Philip Hallie (1922 – 1994) aufmerksam geworden, die ich dir gerne erzählen möchte, weil sie mich tief berührt hat.
Hallie war Soldat im 2. Weltkrieg und wurde später Professor für Philosophie. Aufgrund seiner Forschungen über den Nationalsozialismus entwickelte er das Konzept der „Institutionellen Grausamkeit“.
Grausamkeit war das Thema, dem er mehrere Veröffentlichungen widmete und es lässt sich leicht vorstellen, dass ihm kein Abgrund menschlichen Seins unbekannt blieb.
In seinem Buch „Lest Innocent Blood be Shared“ beschreibt er, wie er bei der Durchsicht von Dokumenten über den Holocaust auf Unterlagen stieß, die einen völlig entgegengesetzten Inhalt hatten: Es war die Geschichte eines evangelischen Dorfs in Südfrankreich, das unter den Augen des Vichy Regimes und in unmittelbarer Nähe zu einem SS Stützpunkt tausende von Juden und Jüdinnen schützte, versteckte und rettete.
Hallie verweigert sich selbst zunächst, dieser Spur zu folgen. Er beschimpft sich als sentimental, weil er seinem Auftrag, die Grausamkeit zu erforschen, ausweiche, wenn er sich mit etwas Hoffnungsfrohem beschäftige. Doch durchdrang ihn die Szene der Freundlichkeit, die er gelesen hatte, „wie ein Speer“. Er hatte jegliche Form von Grausamkeit in seinem Geist gespeichert und fragte sich schließlich:
„Aber warum nicht Freude abspeichern? Warum keinen Raum lassen für Trost?“
Noch in derselben Nacht kehrt er zurück in die Bibliothek und liest die wenigen Seiten über das Dorf Chamon-Sur-Lignon und die große Menschlichkeit seiner Bewohner*innen. Er spürt die „wilde, schmerzliche Freude, die in den Geist fließt, wenn ein tiefes, tiefes Bedürfnis befriedigt wird, oder wenn eine tiefe Wunde zu heilen beginnt.“
Hallie reist nach Frankreich und schreibt die Geschichte der Rettungen in diesem Dorf auf, die mit dem Pastor André Trocmé begann.
Einmal mehr hat eine einzige Person der Welt das Mitgefühl zurückgegeben und den Glauben an die Kostbarkeit jedes einzelnen menschlichen Lebens, fasst Sarton die Essenz seines Buches „Lest Innocent Blood be Shared“ zusammen.
Die Antwort auf seine Frage – warum nicht Freude abspeichern, warum keinen Raum lassen für Trost – brachte Hallie nach Frankreich und bringt ihn schließlich zu der Erkenntnis:
„Ich brauchte dieses Verstehen, um mich – und vielleicht auch andere – von der Gewalt der Verzweiflung zu erlösen“.
Sarton kommentiert dies mit folgenden Worten:
„Immer wieder müssen wir die Berge von schlechten Nachrichten, das riesige Leid zur Seite schieben, dessen widerstrebende Zeugen wir sind und einen einzigen Menschen herausgreifen, immer zurückgehen zum individuellen Menschen, zu denen, die sich kümmern“.
Ja, das ist genau unsere tägliche Arbeit. Immer wieder zurückgehen zum einzelnen Menschen. Das ist die Spur der Freude, die zum Mitgefühl führt und zur Mitmenschlichkeit und schließlich zur Freiheit von der Gewalt und Grausamkeit, die medial so übermächtig in Szene gesetzt wird.
Wenn ich meine Anstiftungsbriefe schreibe, möchte ich einen Raum öffnen. Einen Raum, in dem sich ein freudiger Moment wiedererkennen oder erstmalig finden lässt. Doch vor allem ist es ein Raum, der eine Tür hat, die über die kurze Begegnung hinaus in die Tiefe führt. In die Tiefe der Möglichkeiten des Menschseins.
Ich möchte anstiften zur Freundlichkeit sich selbst gegenüber, zur Freundschaft mit dem Leben und jeglicher Kreatur, die die Erde hervorbringt.
Dieser Ort in der Tiefe ist die beste Plattform, Freundlichkeit und Freundschaft zu üben. Und Nein zu sagen zu dem, was uns selbst und unseren Lebensraum zerstört. Dieser Ort in der Tiefe ist ein Raum der Stärke und wir brauchen Stärke und Mitgefühl, nicht Verzweiflung oder Hass, wenn wir die Welt umgestalten wollen. Und ich habe noch keinen Menschen gesprochen, dem oder der das nicht ein inneres Anliegen war.
Das ist meine Anstiftung heute: Finde den tiefen Raum in dir, in dem du mit dir selbst und deiner Freundlichkeit verbunden bist und mit deiner Freundschaft zum Dasein verbunden bist und der dir Kraft zum Handeln und zum Heilen gibt.
Herzliche Grüße
Eva
Lass einen Kommentar auf dem Blog, was du gefunden hast.
Außerdem: Wenn dich meine Anstiftung zur Freude inspiriert oder dir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat, gib mir einen Kaffee aus über meine virtuelle Kaffeekasse hier. Danke! #freundlicheökonomie
Heute schreibe ich Nr. 80 meiner Anstiftungsbriefe. Ein Jubiläum! Ich finde 80 eine wunderbare Zahl. In 17 Jahren werde ich 80 sein und ich frage mich – schreibe ich mit 80 Jahren noch meine Freitagsbriefe Essays und meine Anstiftungsbriefe?
Zeit für Reflektion.
Deshalb ist der Brief heute länger als sonst. Bear with me, wie es im Englischen so schön heißt. Ertrag mich für den Zeitraum meines langen Atems; hab Geduld mit mir.
Seit Februar 2022 schreibe ich mit wenigen Ausnahmen wöchentlich einen kürzeren Text, der sich mit Freude befasst. Angefangen habe ich damit kurz nachdem mein Vater gestorben war. Um zuerst an seinem Sterbebett zu sitzen und dann an seiner Beerdigung teilzunehmen, verbrachte ich im Januar und Februar 2022 viele Stunden im Zug.
Die zeitliche Nähe zum Tod meines Vaters ist mir aufgefallen, als ich über den Anfang der Anstiftungsbriefe nachdachte. Im Zug hat der Mensch meist genug Zeit, ausführlich nachzudenken. Ich glaube, die Reisen vom Norden in den Süden und zurück haben dazu beigetragen, das neue Projekt in die Welt zu bringen.
Freude braucht grundsätzlich Raum. Freude ist mehr, als ein vorübergehendes Lächeln oder gutes Gefühl. Im Grunde ist Freude eine ernsthafte Angelegenheit. Damit meine ich nicht Schwere, obwohl Freude manchmal und immer wieder Arbeit ist. Freude ist ernsthaft wie Meditation, denn Freude ist eine fortwährende Meditation über das Leben. Freude ist eine innere Haltung, vor allem aber ist sie eine revolutionäre Kraft.
Freude kostet nichts und ist einfach da, sie löst uns aus den Verführungen der Konsumorientierung und den Zwängen der Selbstoptimierung. Sie lehrt uns, dass wir nicht der Mittelpunkt der Welt sind. Sie fördert Mitgefühl für uns selbst und andere. Sie zeigt uns Respekt vor dem vielfältigen Ausdruck von Leben, der uns umgibt.
Hermann Hesse hat in seinem Essay „Kleine Freuden“ skizziert:
„Ein Stück Himmel, eine Gartenmauer, von grünen Zweigen überhangen, ein tüchtiges Pferd, ein schöner Hund, eine Kindergruppe, ein schöner Frauenkopf – das alles wollen wir uns nicht rauben lassen. Wer den Anfang gemacht hat, der kann innerhalb einer Straßenlänge köstliche Dinge sehen, ohne eine Minute Zeit zu verlieren…….. Alle Dinge haben eine anschauliche Seite, auch interesselose oder häßliche.“
Ja, auch in langweiligen oder vermeintlich hässlichen Dingen liegt ein Freudekern.
Freude hat selbst im Schweren nicht nur ihren Platz, sondern hält ein Angebot zur Heilung bereit.
Durch May Sartons (1912 – 1995) Buch „Recovery – A Journal” bin ich auf die Geschichte von Philip Hallie (1922 – 1994) aufmerksam geworden, die ich dir gerne erzählen möchte, weil sie mich tief berührt hat.
Hallie war Soldat im 2. Weltkrieg und wurde später Professor für Philosophie. Aufgrund seiner Forschungen über den Nationalsozialismus entwickelte er das Konzept der „Institutionellen Grausamkeit“.
Grausamkeit war das Thema, dem er mehrere Veröffentlichungen widmete und es lässt sich leicht vorstellen, dass ihm kein Abgrund menschlichen Seins unbekannt blieb.
In seinem Buch „Lest Innocent Blood be Shared“ beschreibt er, wie er bei der Durchsicht von Dokumenten über den Holocaust auf Unterlagen stieß, die einen völlig entgegengesetzten Inhalt hatten: Es war die Geschichte eines evangelischen Dorfs in Südfrankreich, das unter den Augen des Vichy Regimes und in unmittelbarer Nähe zu einem SS Stützpunkt tausende von Juden und Jüdinnen schützte, versteckte und rettete.
Hallie verweigert sich selbst zunächst, dieser Spur zu folgen. Er beschimpft sich als sentimental, weil er seinem Auftrag, die Grausamkeit zu erforschen, ausweiche, wenn er sich mit etwas Hoffnungsfrohem beschäftige. Doch durchdrang ihn die Szene der Freundlichkeit, die er gelesen hatte, „wie ein Speer“. Er hatte jegliche Form von Grausamkeit in seinem Geist gespeichert und fragte sich schließlich:
„Aber warum nicht Freude abspeichern? Warum keinen Raum lassen für Trost?“
Noch in derselben Nacht kehrt er zurück in die Bibliothek und liest die wenigen Seiten über das Dorf Chamon-Sur-Lignon und die große Menschlichkeit seiner Bewohner*innen. Er spürt die „wilde, schmerzliche Freude, die in den Geist fließt, wenn ein tiefes, tiefes Bedürfnis befriedigt wird, oder wenn eine tiefe Wunde zu heilen beginnt.“
Hallie reist nach Frankreich und schreibt die Geschichte der Rettungen in diesem Dorf auf, die mit dem Pastor André Trocmé begann.
Einmal mehr hat eine einzige Person der Welt das Mitgefühl zurückgegeben und den Glauben an die Kostbarkeit jedes einzelnen menschlichen Lebens, fasst Sarton die Essenz seines Buches „Lest Innocent Blood be Shared“ zusammen.
Die Antwort auf seine Frage – warum nicht Freude abspeichern, warum keinen Raum lassen für Trost – brachte Hallie nach Frankreich und bringt ihn schließlich zu der Erkenntnis:
„Ich brauchte dieses Verstehen, um mich – und vielleicht auch andere – von der Gewalt der Verzweiflung zu erlösen“.
Sarton kommentiert dies mit folgenden Worten:
„Immer wieder müssen wir die Berge von schlechten Nachrichten, das riesige Leid zur Seite schieben, dessen widerstrebende Zeugen wir sind und einen einzigen Menschen herausgreifen, immer zurückgehen zum individuellen Menschen, zu denen, die sich kümmern“.
Ja, das ist genau unsere tägliche Arbeit. Immer wieder zurückgehen zum einzelnen Menschen. Das ist die Spur der Freude, die zum Mitgefühl führt und zur Mitmenschlichkeit und schließlich zur Freiheit von der Gewalt und Grausamkeit, die medial so übermächtig in Szene gesetzt wird.
Wenn ich meine Anstiftungsbriefe schreibe, möchte ich einen Raum öffnen. Einen Raum, in dem sich ein freudiger Moment wiedererkennen oder erstmalig finden lässt. Doch vor allem ist es ein Raum, der eine Tür hat, die über die kurze Begegnung hinaus in die Tiefe führt. In die Tiefe der Möglichkeiten des Menschseins.
Ich möchte anstiften zur Freundlichkeit sich selbst gegenüber, zur Freundschaft mit dem Leben und jeglicher Kreatur, die die Erde hervorbringt.
Dieser Ort in der Tiefe ist die beste Plattform, Freundlichkeit und Freundschaft zu üben. Und Nein zu sagen zu dem, was uns selbst und unseren Lebensraum zerstört. Dieser Ort in der Tiefe ist ein Raum der Stärke und wir brauchen Stärke und Mitgefühl, nicht Verzweiflung oder Hass, wenn wir die Welt umgestalten wollen. Und ich habe noch keinen Menschen gesprochen, dem oder der das nicht ein inneres Anliegen war.
Das ist meine Anstiftung heute: Finde den tiefen Raum in dir, in dem du mit dir selbst und deiner Freundlichkeit verbunden bist und mit deiner Freundschaft zum Dasein verbunden bist und der dir Kraft zum Handeln und zum Heilen gibt.
Herzliche Grüße
Eva
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