Stille als Graswurzelrevolution

Wenn wir uns die Welt vorstellen als eine weite Fläche, auf der ursprünglich nichts als von der Natur erzeugte Geräusche zu hören war (in manchen entfernten Gegenden ist das heute noch der Fall; manchmal auch in einem Wald in der Nähe, jedenfalls so lange einem keine ununterbrochen redende Wandergruppe entgegenkommt; solange kein Flugzeug vorbeifliegt oder die nächste Straße sich durch das Geräusch von Fahrzeugen ankündigt).

Wenn wir uns also diese Fläche mit nur natürlichen Geräuschen vorstellen als eine freie Spielfläche der Natur, auf der sie Donner und Steinschlag und Vogelgesang und den Todesschrei eines vom Feind erlegten Beutetiers und das Schweigen vor der Morgendämmerung nach Belieben hin und her rollte, so ist heute diese Fläche kein freies Spielfeld mehr, sondern überwiegend kommerzialisiert.

Stille wird in einem kapitalistischen Markt als urbar zu machendes Land gesehen, dessen Eroberung Profit generiert.

Die Töne, die wir in Kaufhäusern und Supermärkten hören, preisen Sonderangebote an und sollen uns in Kauflaune versetzen. Die Kopfhörer mit den mobilen Musikanlagen, die uns gegen Geld abonnierte Podcasts und Musikplattformen in unsere Gehörgänge leiten, schlucken den Augenblick, in dem wir früher am Fenster standen, hinausblickten und das Lied einer Amsel uns zum Lächeln brachte.

Die Menschen, deren Stimmen uns durchs Telefon mit Rat und Tat beiseite standen und Auskunft gaben, wurden aus Kostengründen durch Endlosschleifen elektronischer Ansagen ersetzt. Wo wir früher beim Warten hätten hören können, wie raschelnd eine Zeitung umgeblättert wurde, hören wir jetzt Musik, die nie anfängt und nie aufhört.

Die Stille ist nicht einfach verschwunden. Wir haben sie verkauft. Wir haben die Lücken in unserem Alltag, die Pausen und die Momente der Muße weggeben für Rationalisierung, für flächendeckende vermeintliche Vergnügungen, für leicht verfügbare Bequemlichkeiten.

Wir haben uns verführen lassen wie Tim Thaler, der sein Lachen gegen Reichtum eintauschte.

Aufmerksamkeitsökonomie nennt das die Künstlerin und Schriftstellerin Jenny Odell in ihrem Buch „Nichtstun“ mit dem Untertitel „Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“ (Der englische Originaluntertitel „Resisting the Attention Economy“ macht es sofort klar – es geht um Widerstand, nicht um eine Kunstfertigkeit).

Odell schreibt:

„In einer Welt, in der unser Wert an unserer Produktivität gemessen wird, erleben viele von uns, dass jede einzelne unserer Minuten erfasst, optimiert oder durch die Technologien, die wir täglich nutzen, als finanzielle Ressource in Dienst genommen wird.“  

Odell stiftet die ihre Leser*innenschaft an, sich der ständigen Produktivität und Nützlichkeit zu widersetzen. Sie zitiert den französischen Philosophen Gilles Deleuze  (1925–1995):

„Das Problem besteht nicht darin, die Leute zum Reden zu bringen, sondern ihnen leere Zwischenräume von Einsamkeit und Schweigen zu verschaffen, von denen aus sie endlich etwas zu sagen hätten ….. Wohltat, nichts zu sagen zu haben, Recht, nichts zu sagen zu haben – denn nur so kann sich etwas Rares oder Seltenes bilden, das ein wenig verdiente, gesagt zu werden.“

Leere Zwischenräume. Einsamkeit. Schweigen. Stille.

Stille lässt sich nicht akkumulieren oder rationalisieren oder auf die Bank schaffen. Wir können uns mit ihr auch nicht ablenken. Wir können sie nirgends kaufen. Stille ist antikapitalistisch.

Wenn wir still sitzen, dann tun wir – nichts. Zumindest von außen macht es den Eindruck, als säßen wir einfach in der Gegend rum. Das Bruttosozialprodukt wächst nicht, Produkte werden nicht gefertigt, Klient*innen nicht betreut, das Geschirr wird nicht gewaschen und den Kindern kein Pausenbrot geschmiert.

Ein kapitalistischer Markt wäre allerdings kein kapitalistischer Markt, wenn er nicht versuchte, auch aus der Stille Gewinn zu schlagen.

Stille, die alte Sprache der Mystiker, Propheten und Gottes, wird zum kaufbaren Heilmittel für die von ihrer permanenten Nützlichkeit gestressten Menschen. Wellnesspakete, Klosteraufenthalte, Fastenretreats. Dazu Klangschalen und Räucherstäbchen. Einfach mal abschalten, um nachher wieder besser zu funktionieren.

Stille als Objekt mit einem Preisschild und einem berechenbaren Kosten-Nutzen-Effekt.

John Cage (1912-1992), Maler, Schriftsteller, Zen-Schüler und Komponist, war bestrebt, dem Objektcharakter von Musikstücken entgegenzuwirken. Seine Ideen dazu lassen sich auch auf Stille anwenden, ja, auf Kunst allgemein, denn weder Kunst, in welcher Form auch immer, noch Stille dienen im Grunde der Kommerzialisierung. Sie bringen etwas zum Ausdruck, das seinen Ausdruck finden will und muss.

Ein Vogel singt nicht, weil er Antworten hat. Er singt, weil er ein Lied hat.

Maya Angelou
(1928-2014)

Cage erklärte anlässlich der Aufführung einer Reihen von Stücken verschiedener Komponisten, die sich trotz unterschiedlicher Kompositionsweisen daran glichen, dass die Ausführung ihrer Aufführung unbestimmt war, also von zufälligen Kriterien und Einfällen abhing:

„Diese Stücke .. sind keine Objekte, sondern ihrem Wesen nach absichtslose Prozesse …. Wenn Töne Töne sind, so gibt das den Menschen, die sie hören, Gelegenheit, in ihrem eigenen Mittelpunkt zu sein.“

Cage wollte nicht etwas schaffen, das wiederholbar und in der Wiederholung zu verstehen, zu vermessen und zu bewerten wäre. Er wollte, dass Menschen die Distanz, die zwischen dem Ereignis und dem Erleben durch die Suche nach der passenden Einordnung entsteht, gar nicht erst entstehen lassen. Absichtslos sollten sie im Hören bleiben.

Das stille Sitzen, so sagte der japanische Zen Meister Kōdō Sawaki Roshi, sei für gar nichts gut.

Ja, natürlich hat es gesundheitliche Vorteile und es kann zu tiefen Einsichten führen, wenn wir still sitzen. Doch Meditation findet jenseits von Zweck- und Nützlichkeitserwägungen statt.

Stilles Sitzen ist stilles Sitzen ist stilles Sitzen.

Stille ist kein Objekt. Stilles Sitzen ist ein absichtsloser Prozess. Atmen. Sitzen. Einfach das. Atmen. Sitzen. Einfach das. Keine Bewertung, kein Ziel, kein Resultat. Eine Möglichkeit, im eigenen Mittelpunkt zu sein. Einfach das.

Odell schreibt:

„Das Wesentliche am Nichtstun, so wie ich es definiere, ist nicht etwa, erfrischt und bereit zu gesteigerter Produktivität an die Arbeit zurückzukehren, sondern vielmehr zu hinterfragen, was wir derzeit als produktiv wahrnehmen.“

In dieser Weise praktiziert, ist das Üben von die Stille ein Akt des Widerstands. Jeder Moment, in dem wir uns bewusst niederlassen, um Stille zu praktizieren, eine Graswurzelrevolution. Ein Abwenden von dem Mantra des ständigen Schneller Weiter Höher Mehr, das überall tost und uns so vielfältig entgegenruft.

In der Stille liegt Freiheit vom Müssen und Wollen. In der Stille kann wieder ein Spielfeld entstehen für natürliche Geräusche, für Gedanken und Empfindungen, die von innen her auftauchen und nicht von außen aufgezwungen werden. Wir können ablassen vom Tun. Wir schaffen Raum, um zu hinterfragen, während wir in unserem eigenen Mittelpunkt sind.

Es kann sich bilden, was Deleuze etwas Rares und Seltenes nennt, „das ein wenig verdiente, gesagt zu werden.“


Dieser Text erschien erstmalig als #Freitagsbriefe Essay am 26. Januaruar 2024. #freitagsbriefe kannst du abonnieren. Als kostenfreien Archivbrief oder druckfrisch im Crowdfunding Modell, um meine Arbeit zu unterstützen. Wenn du mehr über die #Freitagsbriefe erfahren möchtest, lies hier weiter.

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