Der Kreis der Familie

Von Regenbogenfahnen, heißen Tränen und der Weltgemeinschaft.

Als ich die S-Bahn verlasse, sehe ich von oben, wie die Demonstration sich in Bewegung setzt. Die Fahnen zeigen dreifarbige Weltkugeln. Ich denke an die Ukraine und grüble über die Farbwahl. Dann entdecke ich lilafarbenen Banner. Es ist Internationaler Frauentag. Ich war gerade in einer anderen Gedankenwelt. Für ein paar Augenblicke hatte ich den 8. März vergessen.

Ein Stück gehe ich neben dem Zug. Die Frauen tragen teilweise Kopftücher, ihre Familien stammen aus den unterschiedlichsten Winkeln der Welt. Sie skandieren in mir unbekannten Sprachen. Eine Passantin kommt dem Demonstrationszug auf der Straße entgegen. Sie applaudiert mit erhobenen Händen. In diesem Moment breche ich in Tränen aus.

Ich könnte mich an den Straßenrand setzen und aus tiefsten Herzen weinen. Ich weiß gar nicht, warum. Ist es Rührung, weil ich die Energie dieser Frauen spüre, ist es die Trauer über den mehrtausendjährigen Krieg gegen das andere Geschlecht, oder habe ich den ersten Covid Koller?

Ich glaube, die ganze Menschheit ist wund von ihrem Menschsein in diesen Zeiten des Umbruchs.

Die einen verdecken ihr Wundsein mit Ausgrenzung, Terror, Krieg, Lügen und Desinformation. Die anderen sind wund von Leid, Verlust, abgebrochenen Verbindungen, Schmerz und Tod. Auf beiden Seiten schwingt mit die kollektive Geschichte, die ungeheilten Traumata der Familienverbände, Völker, Länder, Nationen, Kontinente.

Mein Eindruck: in den letzten 20 Jahren ist so gut wie alles, was missachtet, tabuisiert und verborgen war, nach und nach auf den Tisch der Erdengemeinschaft gelegt worden. Die Liste ist ziemlich lang. Sämtliche Institutionen, die teilweise Jahrhunderte funktioniert haben, stehen darauf. Auch die Demokratie. Kein Wunder, dass wir angestrengt und erschöpft sind und uns immer wieder hilflos fühlen.

Was nicht angeschaut oder verleugnet wird, wirkt trotzdem, und früher oder später, an einem bestimmten Moment in unserer Menschheitsgeschichte, bricht es auf und aus. In den letzten 20 Jahren gab es viele dieser Momente.

So ein Moment war der öffentliche Tod von George Floyd. Einige seiner letzten Worte, bevor er von einem Polizisten ermordet wurde: „Ich kann nicht atmen“.

So ein Moment war das Erscheinen von „Die vergessene Generation“, dem Buch von Sabine Bode über das Fortwirken der Kriegstraumata weit über die deutsche Nachkriegszeit hinaus. 

Gerade dieser Resonanzraum ist weit offen durch das Verbundensein und die Verflechtung von Menschen, die in Deutschland leben, mit Menschen aus der Ukraine und auch Russland.

Dieser Resonanzraum ist so offen, dass sogar in Radiosendungen über die Traumatisierungen nachgedacht wird, die durch die Berichterstattung bei denjenigen entstehen, die den 2. Weltkrieg miterlebt haben.

Tatsächlich gibt es sogenannte sekundäre Traumatisierung durch Bilder und Berichte aus Kriegs- und Katastrophengebieten. Ich vermute, wir erleben im Moment vor allem die Aktivierung alter ungeheilter Traumata und Re-Traumatisierungen. Das betrifft insbesondere die ältere Generation, doch nicht nur. Denn viele von uns leben mit Erinnerungen an Erfahrungen, die wir selbst nie gemacht haben, ob wir es wissen oder nicht.

Als Kind und Teenager erinnerte ich mich oft an Bombennächte, die Jahre vor meiner Geburt stattgefunden hatten.

Die Pandemie hat uns hinschauen lassen, der Krieg lässt uns hinschauen. Überall dort hinschauen, wo Menschen (und auch Tiere) nicht atmen können, weil ihre Stimmen und das, was sie teilweise seit Generationen mit sich tragen, kein Gehör findet und fand.

Beim Hinschauen geht es einerseits um tatkräftige Hilfe und Unterstützung, klare Abgrenzung. Um neue Ideen für andere Strukturen und Institutionen.

Wir sind allerdings auch deutlich eingeladen, auf uns selber zu schauen.

Warum bei sich selber hinschauen?

Auf unseren persönlichen Tischen liegt ebenfalls Ungehörtes und Ungeheiltes, aus der eigenen wie aus der kollektiven Geschichte.

Die eigene Heilung ist Bedingung für die Heilung der Welt.

Albert Einstein:

Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise
lösen, durch die sie entstanden sind.

Ich würde das etwas abwandeln:

Innerhalb der emotionalen Strukturen und Handlungsmuster,
die zum Entstehen von  Problemen geführt haben, lassen sich die Probleme allenfalls vorübergehend, jedoch nicht endgültig heilen.

Vor knapp zwei Jahren habe ich in einem Blogbeitrag zum 8. Mai gefragt: Wieviel Frieden hast du so? Und vorgeschlagen eine Friedensübung. Das schlage ich immer noch vor.

Ich brauche viel Friedensübung bei all der Schwere und Last, die uns gerade umgeben. Und gleichzeitig weiß ich: das ist auch eine Heilungschance und Heilungsaufgabe und Gelegenheit zu Liebe und Versöhnung.

Mutter Teresa hat einmal sinngemäß gesagt:

Das Problem mit der Menschheit ist, dass sie den Kreis der Familie
nicht weit genug zieht.

Ich glaube, in den letzten 20 Jahren sind wir mehr und mehr dabei, das zu ändern.

Im Januar habe ich geschrieben, das Wort des Jahres sei „Wir“.

Räume öffnen, in denen wir uns gemeinsam erinnern, welch wunderbare Wesen Menschen sind. Nächsten Mittwoch gibt es wieder so einen Raum  zu Austausch, wenn der Palast der Freude seine Pforten zum 4. Mal öffnet. Hier kannst du Näheres erfahren und dich für deinen (kostenlosen) Palastschlüssel anmelden.

Herzliche Grüße
Eva Scheller

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