Veränderungen wagen

Als Kind las ich alle verfügbaren Karl May Bücher. Das waren über 60. Ich las auch eine Biografie und seine autobiografischen Schriften. Davon geblieben ist die Fähigkeit, 50 Jahre später jederzeit den vollen Namen von Hadschi Halef Omar aufzusagen und ein Grundgefühl, dass die Menschen überwiegend gut sind, unabhängig von ihren nationalen Zugehörigkeiten, ihren Besitztümern und ihren Glaubenssystemen. Außerdem habe ich den Begriff Kismet kennen gelernt, der im Islam für ein von Gott zugeteiltes, unabwendbares Schicksal steht.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Vater, in dem er mir zu erklären versuchte, warum Menschen teilnahmslos werden, wenn sie nichts gegen ihr Schicksal unternehmen können.

Das hat mich schon damals interessiert, wie das ist mit der Gestaltung des eigenen Lebens. Haben wir das in der Hand? Kismet, so, wie Karl May das beschrieb, schien ein bisschen aussichtslos. Der Mensch denkt und Gott lenkt?

Wir treffen stets und ständig Entscheidungen. Viele davon erfolgen automatisch, wir haben so lange geübt, dass wir uns über eine ganze Reihe von Umständen, die unser Leben bestimmen, keine bewussten Gedanken mehr machen. Trotzdem treffen wir unbewusst immer wieder die Entscheidung: „Weiter wie bisher“.

Wie fest das Korsett ist, in dem wir durch Gewohnheit stecken, ist uns oft nicht klar. Es zeigt sich vielleicht dadurch, dass wir vor Veränderungen zurückscheuen, weil es sich „ungut“ anfühlt. Dabei hat das nichts mit Intuition zu tun, die mich vor einer wenig hilfreichen Entscheidung warnen will. Sondern unser Körper reagiert auf alles Neue und Unbekannte zuerst einmal mit erhöhter Wachsamkeit. Könnte gefährlich sein.

Da ist was dran: Entscheidungen sind zweischneidig. Wenn ich die Wahl für etwas treffe, wähle ich etwas anderes ab. Manchmal glauben wir, das ist nun sicher der Jackpot. Und dann passiert, was Krösus passiert ist: er hat das Orakel von Delphi falsch interpretiert. Als er mit seinen Truppen den Grenzfluss zum Nachbarreich überschritt, wurde tatsächlich ein großes Reich zerstört. Aber es war sein eigenes.

Vor genau zwei Wochen ist es mir mit einer Entscheidung, die nach hinten los ging, in etwa so gegangen wie Krösus: beim Arbeiten an meiner Webseite in einem Co-Working Seminar kollabierte das System des Hosts. Ich hatte plötzlich eine Webseite, die ich nicht wiedererkannte. Fast sämtliche Formatierungen waren weg. Mein sorgfältig gehegter Webseiten Garten, den ich vorsichtig umgestalten wollte, war ein Totalschaden.

Einerseits war ich fassungslos. Andererseits fiel mir im nächsten Moment ein, wenn mir das Leben nicht ab und an einen Haufen Zitronen in den Weg werfen würde, erführe ich gar nicht, wie zuversichtlich, gelassen und freudig ich sein und bleiben kann, unabhängig von den äußeren Umständen.

Das Neue hat immer auch mit dem besseren Kennenlernen seiner selbst zu tun.

Warum ist es oft so schwer, etwas Neues anzufangen?

Warum bleiben Menschen stecken in dem, was sie tun, obwohl es ihnen nicht gefällt oder sie sogar belastet und unglücklich sein lässt?

Warum wagen selbst Menschen, die reflektiert sind und viel über ihre innere und äußere Verfassung wissen, nicht den nächsten Schritt, obwohl ihre Lebensumstände sie kneifen und drücken?

Hat sich für dich schon einmal die Notwendigkeit einer Veränderung aufgedrängt und du hast nichts unternommen? War dir das zu diesem Zeitpunkt schon klar oder ist dir das erst später klar geworden?

Glaubst du, du bist Herrin oder Herr in deinem Lebensfeld, also freie*r Gestalter*in? Oder eher nicht?

Eine Leserin schrieb mir auf den letzten Freitagsbrief und empfahl den Film „Rosas Hochzeit“.

Rosa kommt in ihrem Leben eher nicht vor. Sie wirkt eingeklemmt zwischen den Bedürfnissen ihrer Familie und den Anforderungen ihrer Arbeit. In all dem erinnert sie mich an Herakles, der zwölf als unerfüllbar geltende Aufgaben lösen musste. Es ist eigentlich gar nicht möglich, unter einen Hut zu kriegen, was ihr zugemutet wird. Und wozu sie wieder und wieder ja sagt.

Für die Freundin hütet sie die Katze. Für die Nachbarn gießt sie die Blumen. Schließlich will auch noch der verwitwete Vater bei ihr einziehen.

Dann hört sie am Filmset, wo sie als Gewandmeisterin arbeitet, eine Schauspielerin das Ehegelübde für die große Hochzeitsszene proben. Ich will dich ehren, lieben, dir treu zur Seite stehen, dich respektieren.

Die Worte treffen sie in der Tiefe.

Sie werden in diesem Moment nur für sie gesprochen. Wie kam es überhaupt dazu, dass sie anwesend war in diesem kleinen Moment?

Rosa beschließt, sich selbst zu heiraten.

Die Blumen der Nachbarn verdorren. Die Wohnung wird aufgegeben. Die Kostüme für die Statisten werden nicht mehr angepasst.

Rosa näht ein Gewand für sich selbst.

Rosa lädt ihre Familie zur ihrer Hochzeitsfeier ein.

Natürlich ist das ist nicht einfach. Das Verhalten der neuen Rosa zieht Konflikte, Zweifel und Ablehnung nach sich.

Und doch ist es alternativlos. Rosa weiß, dass sie sich selbst ins Zentrum ihres Lebens stellen muss.

Wir gestalten unser Leben, aber wir gestalten es weder allein noch für uns allein. Rosas Veränderungen hätten weiter auf sich warten lassen, wäre sie nicht Zeugin der Probeszene geworden.

Umgekehrt sind die Veränderungen, denen sie sich unterzieht, wichtig für sie selbst, und beeinflussen gleichzeitig ihr gesamtes Umfeld in heilsamer Weise.

Wir schulden uns, genau hinzuschauen und hinzuhören. Immer wieder innezuhalten, um in aller Freundlichkeit zu fragen: Wie fühlt sich das Leben an, das ich lebe? Komme ich vor darin? Kommt Freude darin vor? Kommt das darin vor, was mir in der Tiefe am Herzen liegt?

Tatsächlich huschen im alltäglichen Leben regelmäßig Ideen für eine Veränderung vorbei. Wenn wir keine offenen Augen und Ohren für sie haben, sind sie kurzlebig und flüchtig. Manche von ihnen kehren hartnäckig mehrmals zurück. Was folgt für dich daraus?

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Dieser überarbeitete Text erschien in seiner ersten Fassung als #Freitagsbriefe Essay am 3. Juni 2022. Wenn du mehr über die #Freitagsbriefe erfahren möchtest, lies hier weiter.

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