Vom Geist der Großzügigkeit

Es war dunkel, wahrscheinlich hat es geregnet und kalt war es sicher auch. Istanbul ist keine sonderlich warme Stadt im Winter. Der Orient Express steht zur Abfahrt bereit. Die Schaffner weisen die Passagiere zu ihren Plätzen und haken ihren Namen auf einer Liste ab.

Ich fahre gerne Zug, und seit ich die Bahnhofszene aus dem Film „Mord im Orient Express“ kenne, möchte ich auch so reisen. Weite Strecken zurücklegen, während die sich verändernde Landschaft vorbeizieht. Rundum versorgt sein. An mit Kristall und Silber und gestärkten Servietten gedeckten Tischen Platz nehmen.

Bahnfahren kann heute so mühsam sein und war damals bestimmt auch kein Zuckerschlecken. Doch bekomme ich diese romantische Idee einer spektakulären Zugreise nicht mehr aus dem Kopf.

Kürzlich fuhr ich von London mit dem Zug nach Hause. Ich leistete mir ein Ticket für die 1. Klasse und als ich auf den Bahnsteig bei meinem Wagon ankam, stand da ein Schaffner mit Klemmbrett, der mir den Weg zu meinem Platz wies und meinen Namen in seiner Liste abhakte. Später wurde Frühstück serviert, auf Porzellangeschirr, mit richtigem Besteck und einer gestärkten Serviette. Ich hatte das nicht erwartet. Und fühlte mich großzügig beschenkt. Gar nicht so sehr wegen des Essens, sondern wegen der Art, wie das Essen serviert wurde.

Seitdem geht mir die Frage nicht mehr aus dem Kopf, was ist das eigentlich, Großzügigkeit?

Wann und in welcher Weise bin ich selbst großzügig? Wie fühlt sich Großzügigkeit an?

Wie wäre unsere Welt beschaffen, wenn wir alle in einer Haltung der Großzügigkeit lebten?

Vor neun Jahren verbrachte der pensionierte Forstingenieur Huseyin Çetinel vier Tage seines Lebens damit, eine Treppe in Regenbogenfarben anzumalen. Dies geschah in Istanbul und Çetinel gab ziemlich viel Geld für Farbe aus.

Das Wort von der bunten Treppe machte die Runde. Einwohner*innen aus anderen Vierteln kamen, liefen die Treppe hinauf und hinunter, saßen auf ihr, machten Selfie Fotos, als stünden sie vor einem berühmten Bauwerk.

Tatsächlich erlangte die Brücke Berühmtheit innerhalb kürzester Zeit. Die Freude allerdings dauerte nicht lange. Die Regierung entsandte Arbeiter, die die Treppe zurück in ihren mausgrauen Zustand versetzen. 

Was dann geschah?

Bürger*innen protestierten. Malten Treppen in ihrer Nachbarschaft regenbogenfarben an, um ihre Solidarität zu zeigen. Der Hashtag #Resist-Stairs wurde geboren. Der Protest breitete sich in der ganzen Türkei aus. Eine Regenbogenrevolution war entfacht worden. Am Ende ruderte die Regierung zurück. Wieder kamen Arbeiter. Diesmal mit bunten Farbtöpfen.

Ein Jahr später, im Oktober 2014, ließ die Stadtverwaltung von San Francisco die Zebrastreifen an einer großen Kreuzung regenbogenfarben gestalten und zwar „zu Ehren der LBTG Community“. Als Huseyin Çetinel gefragt wurde, warum er die Treppenstufen bunt anstrich, sagte er: „Um die Leute zum Lächeln zu bringen.“

Agatha Christie, die Hercule Poirot auf seine Reise mit dem Orient Express von Istanbul nach London schickte, schrieb eine wunderbare Autobiographie. Darin schildert sie ihre viktorianische Kindheit und die Kühnheit, mit der sie später, nach dem Scheitern ihrer erste Ehe, auf Reisen in den tiefsten Orient ging.

Kühnheit, das ist mein Wort, Agatha Christie hätte sich wahrscheinlich niemals als kühn bezeichnet. Ihre Neugierde, ihre Reiselust und vor allem ihre geistige Freiheit erlaubten ihr, über gesellschaftliche Konvention hinwegzugehen. In den 1920er Jahren brachte sie sich auf Hawaii das Surfen bei. Und bereits 1911 stieg sie bei einer Flugschau zum ersten Mal in ein Flugzeug.

Ihr Vater war früh verstorben, Geld eher knapp, doch hatte ihre Mutter ohne zu zögern tief in die Tasche gegriffen. „Wenn du das so gerne möchtest, Agatha, dann musst du das natürlich machen“, sagte sie, und verlor kein Wort darüber, dass viele der kleinen Flugzeuge den Ausflug in den Himmel mit einer Bruchlandung abschlossen.

Nach der Definition des online Werte Lexikon der Values Academy, ist Großzügigkeit:
„das freiwillige Geben über das normale Maß hinaus“.

Weiter nennt das online Werte Lexikon zwei Aspekte der Großzügigkeit:

  1. Die Bereitschaft, zu teilen und etwas zu geben, das größer als das selbstverständliche Maß angesehen wird. 
  2. Die Fähigkeit, in größeren, als normalen Dimensionen zu denken und insbesondere zu handeln, gestalten.

Huseyin Çetinel ist für mich ein großzügiger Mensch. Dass er Menschen zum Lächeln bringen möchte, dafür Zeit und Geld investiert und die Kühnheit aufbringt, öffentliches Straßenland in einer wenig freien Gesellschaft für diesen Zweck zu nutzen, ist Teilen und Geben gepaart mit der Fähigkeit, in „größeren als normalen Dimensionen“ zu denken und zu handeln.

Ich glaube, Großzügigkeit fängt im Geist an als innere Freiheit, die nicht exakt trennt zwischen dein und mein, die konventionelle Wege und Schranken zwar zur Kenntnis nimmt, sich davon jedoch nicht aufhalten lässt. Hier kommt die Kühnheit ins Spiel. Eine großzügige Haltung kann  Risiken bergen. Im Geiste frei zu sein, bedeutet auch, sich für keine Seite vereinnahmen zu lassen.

In dieser Freiheit hat Agatha Christies Mutter nicht nur die Haushaltskasse überstrapaziert, sondern gleichzeitig ihrer Angst, was beim Fliegen nun alles passieren könnte, nicht den Vortritt gelassen. In dieser Freiheit hat Agatha selbst ihr Leben gestaltet, immer wieder, trotzdem sie Unverständnis und Missbilligung erntete.

Ich kenne viele Menschen, die großzügig sind in ihrer Bereitschaft zu geben. Sie teilen ihr Wissen und ihre Arbeitskraft in einer Weise, die über übliche Maßstäbe hinausweist. Sie probieren Neues aus, trotz des Chores von Stimmen, der sofort ruft: „Das wird eh nichts, das kann ja nicht klappen.“

Zu dem Kreis der großzügigen Menschen gehört die Biobäuerin aus dem Nachbarort, die mit dem Rhythmus der Jahreszeiten lebt und viele im Umkreis versorgt, die Mühen und Schwierigkeiten auf sich nimmt und ihre persönlichen Bedürfnisse immer wieder zurückstellt.

Dazu gehören die Gärtner*innen der Solidarischen Landwirtschaft (Solawi), die eine neue Form des Wirtschaftens ausprobieren, jährlich um Mitglieder werben, ohne Subventionen auskommen und den Boden, den sie bestellen, mit Pferden bearbeiten.

Dazu gehören die Menschen, die sich hinsetzen, um Bücher zu schreiben, mit denen sie Geschichten und Ideen in die Welt bringen, damit andere unterhalten und inspiriert werden.

Das Schreiben und das Früchte ziehen ist eine ähnlich anstrengende Arbeit, wenn auch jeweils ganz anders ausgeführt, doch über die Anstrengungen denken wir selten nach, weil in Supermärkten und Buchläden die jeweiligen Erzeugnisse fertig und hübsch verpackt jederzeit zu haben sind. Viele eher sind wir bereit, krumme Gurken auszusortieren und negative Kritiken über Werke zu verfassen.

Großzügigkeit kann damit anfangen, dass ich aufhöre, die Welt nach meinen persönlichen Ansichten zu bewerten. Dass ich weniger kleinlich und geizig bin gegenüber Menschen und Dingen, die mir nicht so liegen.

Tatsächlich können sich kleine Wunder entfalten, wenn ich mit großzügigen Augen in die Welt sehe. Plötzlich entdecke ich überall Akte der Großzügigkeit.

Ja, natürlich könnte ich sagen, zu den Bäuerinnen und Schriftstellern, zu Kindergärtner*innen und Lehrer*innen, den Pflegenden, den Müllarbeiter*innen, zu all denen, die im Dienstleistungsgewerbe tätig sind, usw. usw.: Das ist doch ihr Job! Oder: sie haben es doch so gewollt! Oder: es hat eben nur für einen Hauptschulabschluss gereicht.

Das allerdings wäre das Gegenteil einer großzügigen, nämlich eine abgrenzende und abwertende Haltung. Diese Haltung übersieht, was jeder einzelne Mensch, mit dem, was er oder sie tut, der Gemeinschaft, also auch mir, zur Verfügung stellt.

Und genau darum geht es bei einer großzügigeren inneren Haltung: offen sein für die Erkenntnis, dass letzten Endes alle Menschen ihr Bestes geben in einem großen Ganzen. Ja, natürlich gibt es immer wieder ein paar Menschen, die verhalten sich schädlich für die Gemeinschaft. Doch die Frage ist: wollen wir die wirklich als Referenzmodell nehmen und unseren Fokus darauf richten?

Ich werde nicht müde, auf das wunderbare Buch „Geflochtenes Süßgras“ von Robin Wall Kimmerer hinzuweisen. Ein Akt tiefster Großzügigkeit, in dem die Autorin ihr indigenes Wissen mit uns teilt, das sie sich nach einer Wissenschaftskarriere erst wieder aneignen musste. Ich glaube, das Buch berührt mich deshalb so tief, weil ich erst durch seine Lektüre angefangen habe zu ahnen, was Großzügigkeit bedeuten könnte, wenn wir unser Leben aus einer inneren Haltung wahrhafter Großzügigkeit leben:

Räume bereit- und offenhalten, in denen sich neues Denken, neue Wege des Miteinanders und eine neue Sicht auf die Welt entwickeln können. Unter Einbeziehung all dessen, was uns umgibt. Wahre Großzügigkeit würde sich niemals auf Kosten anderer entfalten.

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Dieser Text erschien zuerst als #Freitagsbriefe Essay am 22. August 2022. Wenn du mehr über die #Freitagsbriefe erfahren möchtest, lies hier weiter.

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Comments (2)

  1. So etwas würde ich gern auch in einer großen Zeitung lesen. Vielleicht am besten in einem 1. Klasse Zug, einem englischen natürlich, wo vielleicht zum Frühstück auch die Zeitung serviert wird. 🙂

    • ja, das würde mir auch gefallen, so einen Essay in einer großen Zeitung zu lesen; und mein Name steht drunter (oder drüber??)

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