In the Middle of Nowhere

Letztens saßen wir in der kleinen Küche um den großen Tisch mit Suppe und Wein. Am späteren Abend sagte eine Freundin, es hat schon einen Grund, dass wir zusammengefunden haben.

Als ich in den nächsten Tagen darüber nachdenke, fällt mir ein Roman ein, an dessen Titel und Autor ich mich nicht erinnere. Die Geschichte spielt in der viktorianischen Zeit. Frauen, die nicht heirateten, hatten keine andere Wahl, als bei der Verwandtschaft zu leben. Die Heldin des Buchs zieht nach dem Tod des Vaters zu ihrem Bruder und seiner Familie in London. Der Verwandtschaft kommt nicht nur ihre Hilfe im Haushalt und bei der Kindererziehung zu Gute. Sie partizipiert auch am Zinseinkommen aus dem Nachlass des Vaters.

Die Versuche, die Schwester zu verheiraten, scheitern. Und eines Tages, als sie schon eine ziemlich alte Jungfer ist, beschließt sie, aufs Land zu ziehen. Sie nimmt eine Landkarte. Sticht irgendwo eine Nadel hinein und sagt: Dahin will ich.

Dahin geht sie auch. Dahin ist ein kleines Dorf mit ungewöhnlichen Gepflogenheiten. Die Menschen sind freundlich, aber distanziert. Keine*r mischt sich ein. Eines Tages findet sie heraus, dass in dem Dorf vor allem Hexer und Hexen leben. Und sie eine von ihnen ist. Plötzlich macht alles in ihrem Leben Sinn. Plötzlich versteht sie ihre Natur.

Ich sitze in meinem kleinen Dorf, in das ich ohne Nadel in der Landkarte gefunden habe. Wie komme ich da hin? Wie finden wir die Orte, an denen wir uns niederlassen, die Menschen, mit denen wir unser Leben teilen in engen und weiteren Zirkeln?

Meine Frage zielt nicht darauf ab, wie wir in Umstände kommen, die mehr oder weniger passen, mehr oder weniger ok sind. Mich interessiert der Weg, der uns dahin führt, unsere Natur zu verstehen. Mit Natur meine ich nicht die Gewohnheiten und Eigenschaften, von denen wir gerne sagen, so bin ich halt, um zu rechtfertigen, dass wir uns selbst im Weg stehen und anderen das Leben schwer machen. Mit Natur meine ich das, was in uns nach Entfaltung strebt. Mein Satz dafür ist: 100% deckungsgleich mit sich selbst sein.

Ich hatte kürzlich ein Gespräch mit einer jungen Klientin, die sagte, vielleicht weißt du das gar nicht, aber meine Generation ist so beschäftigt mit Selbstoptimierung. Ich fühle mich so unter Druck. Ich möchte einfach irgendwo ankommen und gut genug sein.

Ist Selbstoptimierung der Weg zu sich und der eigenen Natur?

Was mich an der Geschichte der viktorianischen Frau beschäftigt: sie hat nicht über Selbstoptimierung nachgedacht. Sie hat getan, was Frauen in ihren Verhältnissen tun. Etwas anderes war undenkbar und also unvorstellbar. Doch eines Tages, plötzlich, nach dem Besuch eines Blumenladens, wird sie eigensinnig. Alle reden auf sie ein. Alle raten ihr ab. Trotzdem setzt sie ihren Plan um. Sie kann sich dem nicht verschließen, das sie ruft.

Ich stelle mir vor, in den Zeiten, da Frauen ihr Platz in der Gesellschaft so zugemessen war wie den EU-Käfighühnern ihre Lebensschachteln, ohne Möglichkeit zu Bewegung und Auslauf, muss der innere Drang gewaltig und der Mut der Frau groß gewesen sein. Ihre Klarheit war ebenfalls groß. Sie wusste, was ihr nächster Schritt sein musste, obwohl sie nicht wusste, was sie vorfinden würde.

Wie wissen wir, was der nächste Schritt sein muss, wenn wir nicht wissen, was wir vorfinden werden?

Selbstoptimierung ist deshalb so groß im Geschäft, weil sie uns genau diese Frage nicht stellen lässt. Wir können einem Plan folgen, den andere für uns aufgestellt haben. Wir bekommen Strategien angeboten, bei denen wir kein Risiko eingehen, weil wir sie selbst in der Hand haben. Wir gehen davon aus, der Plan beschert uns einen besseren BMI, einen ausgeglichenen Vitaminhaushalt und innere Ruhe.

Und dann ist alles gut?

Im Gespräch mit einer anderen jungen Klientin finde ich heraus, sie führte ein Dankbarkeitstagebuch, in das sie pflichtgemäß jeden Tag schrieb, um danach diesen Punkt von der Agenda abzuhaken, ohne tatsächlich Dankbarkeit zu empfinden. Dankbarkeitstagebücher gehören bei der Selbstoptimierung in die Kategorie Mindset Optimierung. Gibt es eine perfektere Sackgasse?

Menschen sind nicht optimierbar. Es gibt keinen Punkt, an wir alles abgehakt haben und gut isses. Sich zu fragen, ob wir am richtigen Platz im Leben stehen, ob wir unserer Natur gemäß leben, oder ob unsere Schubladen klemmen (ich habe mich lange gefühlt wie eine klemmende Kommode), ist der Anfang eines Weges, auf dem uns keine Landkarte zur Verfügung steht. Ich nenne den Weg Heilungsweg. Heilung von Druck und Unbehagen, vom Leiden am nicht genug sein. Vom Wunsch, irgendwann anzukommen in einem perfekten Leben.

Auf diesem Weg wissen wir nicht, worauf wir uns einlassen, und gehen trotzdem den nächsten Schritt, so üben wir, dem Leben gegenüber elastischer zu werden, uns weniger schnell in Gedanken, Gefühlen und Projektionen zu verstricken. Im besten Fall lernen wir, uns weniger wichtig zu nehmen. Das scheint mir überhaupt der beste Mindset: eine Prise Demut.

Die viktorianische Frau geht in dem Dorf der Hexen und Hexer mitten in der Nacht zum Tanzplatz. Das ist nicht unbedingt eine wilde Angelegenheit, jede und jeder tanzt nach ihrer und seiner Façon, allein oder in Gruppen. Der Teufel ist ein sanfter Herr, dessen Aufgabe vor allem darin besteht, die Regeln der Welt außer Kraft zu setzen.

Genial, denke ich nach Lektüre des Romans. Wenn wir dahin kommen wollen, unsere Natur zu verstehen und ihr gemäß zu leben, müssen wir die Regeln der Welt außer Kraft setzen und uns dem entziehen, was andere von uns erwarten, was für üblich gehalten wird.

Der Weg zu sich selbst ist radikal individuell. Kein anderer Mensch hat ihn vorher beschritten. Trotzdem ist er ein Gemeinschaftswerk. Menschen, die für sich für ihn entscheiden, schaffen einen Resonanzraum, in dem sie sich finden. Das kann auch in einem kleinen Dorf in the middle of nowhere sein.

Dieser Text erschien zuerst als #Freitagsbriefe Essay am 4. November 2023. Wenn du mehr über die #Freitagsbriefe erfahren möchtest, lies hier weiter.

Wenn dich mein Text „In the Middle of Nowhere“ inspiriert oder dir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat, und du etwas zurück geben möchtest, freue ich mich über einen Reigen von Tassen und Herzen, den meine virtuelle Kaffeekasse im Fall einer Spende über mich (und auch dich) ergießt. Du kannst den Betrag, mit dem du mich unterstützen möchtest, individuell einstellen. Hier: virtuelle Kaffeekasse. Danke!

#freundlicheökonomie

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert