Aufhören und Weitergehen

Es ist halb acht Uhr morgens, mit über 90 weiteren Teilnehmenden sitze ich in einem virtuellen Raum und gleichzeitig allein auf dem Boden in einem Zimmer meines Haus. Ich weiß nicht, was mich erwartet.

Ich habe mich angemeldet für „Breath Work und Bhagavad Gita“, weil dieser 5000 Jahre alte Weisheitstext der indischen Tradition schon seit über zwei Jahren auf meinem Bücherstapel liegt.

Wir beginnen mit der Ehrung der Lehrerinnen und Lehrer, die die alten Weisheiten überlieferten über so lange Zeit; es folgt die Ehrung der   Gemeinschaft derer, die miteinander die Reise unternehmen, am Leben zu sein. Das sind wir selbst.

Und als die Lehrerin erzählt, vor der Stunde habe sie mit einer Kollegin gesprochen und sich aus diesem Dialog einen Satz notiert, sind alle eins. Die Lehrenden, die Schüler*innen, die Gefährt*innen auf der Lebensreise.

Der Satz handelt davon, dass dieser Januar von der ersten Stunde an jeder/jedem ihre/seine Themen präsentiert.

Mich ergreift das in besondere Weise. Zusammen zu sein an diesem Morgen zu dieser Stunde, verbunden mit etwas, das vor so unendlich langer Zeit begann.

Außerdem habe ich ähnliche Worte über den Januar schon mehrmals gehört: Dass das junge Jahr keinen verschlafenen Anlauf biete, sondern von Anfang an eine große Präsenz.

Auch ich selbst fühle mich in ungekannter Weise seit Anbeginn mitten im Geschehen. Das Jahr ist nicht alt, doch ist es schon reif. Wir müssen uns gar nicht dazu hinarbeiten, dass alles anders/besser/schöner/wichtiger/richtiger etc. werde.

Wir sind gefordert, das Jahr so nehmen, wie es ist, mit all dem, was es zu bieten hat.

Getreu dem Satz eines weisen Menschen, den ich einmal aufgeschnappte:

I take a mountain for a mountain and not as comment to my life.

Das Jahr so sein zu lassen, wie es ist und wird, bedeutet vor allem auch: Mich selbst so sein zu lassen, wie ich bin.

Vielleicht ist es nun an der Zeit, die Früchte dessen einzubringen, was wir vorbereitet haben, ganz unabhängig davon, ob die Vorbereitungsarbeit bewusst oder unbewusst erfolgte.

Wenn wir alle miteinander auf dieser gemeinsamen Lebensreise aufhören würden, ein Defizit zu füllen, eine Lücke zu schließen, etwas in Ordnung zu bringen an uns und in unserem Leben. Wenn wir uns ehren würden für das, was wir sind.

Was würde geschehen? Wieviel Energie würde freigesetzt, weil wir nicht mehr gegen uns kämpfen?

Die Physik weiß, wie die spirituelle Lehre, wo Widerstand ist, erhöht sich der Druck.

Vielleicht macht das die allgemeine Erschöpfung aus, die vielen Burn Out und sonstigen Fällen psychischer Krankheiten. Vor lauter Widerstand gegen das eigenen So-Sein, vor lauter Selbstoptimierungsaufgaben + zusammen mit all den anderen Unternehmungen, die wir glauben, mit Bestnote meistern zu müssen, bleibt keine Kraft übrig. Vor allem kein Raum für das, was die Kraft erneuert, was uns fördert.

Ich habe für den Januar aus den „Wisdom of the Oracle“ Karten die Karte „Round and Round“ gezogen.

„Round and Round“ steht für die ständige Wiederholung alter Muster. Für das, was sich immer wieder in der gleichen Weise entfaltet. Ich drehe mich im Kreis und nach wieder einer Runde befinde ich mich genau dort, wo ich schon so oft stand.

Bevor ich die Karte zog, stellte ich mir den Januar als Zeit vor, die die Überschrift „Detox“ führt. „Detox“ im Sinne des Verlernens alter, nicht mehr hilfreicher und des Erlernens neuer, unterstützender Verhaltensweisen.

Besondere Aufmerksamkeit für die alten Muster zu haben, die unter bestimmten Bedingungen automatisch ablaufen, und sie nicht mehr zu bedienen, ist ein zentraler Aspekt meines Detox.

Und gleich fallen mir alte Schmerzen vor die Füße, die Heftigkeit meiner Reaktion auf olle Kamellen überrascht mich, doch bevor ich mich in einer Tirade ergehen kann darüber, was ich alles immer noch nicht gelernt habe, erinnere ich mich.

Ich erinnere mich an das Stichwort „Alte Muster“.

Ich setze mich hin und staune und spüre den Schmerz und denke, ok, so ist das jetzt, und weiß für einen Moment gar nichts. Und dann ist es vorbei.

Ich notiere in diesen ersten Januar Tagen:

„Manchmal fühle ich mich wie ein Ping-Pong Ball, den das Leben verhaut, er schlägt an einer Wand auf und nicht auf der Tischtennisplatte, fängt sich in einem Basketballkorb, kugelt unter Rosen, die weder Blätter noch Blüten tragen, aber Dornen, rollt auf den nächsten Gulli zu. Stoppt plötzlich. Liegt still und erstrahlt dann inmitten des Asphalts. Wechselt ein ums andere Mal die Farbe, bekommt Beine Hände Augen, einen Körper und eine Stimme; und dann bin ich es, die den Schläger über die Tage führt.“

Ich führe den Schläger über die Tage. Daran will ich mich ebenfalls erinnern.

Während ich im Kurs sitze, landet in meinem Postfach die Benachrichtigung über einen Kommentar zu einem meiner Blogartikel. Meine Webseite wird gerade von Spam Kommentaren überschwemmt. Der jüngste Kommentar ist auch so ein Spam Fall. Allerdings ist er gleichzeitig eine geniale Auffindehilfe, denn er hat sich einen älteren Beitrag herausgesucht, einen #Freitagsbriefe Essay vom Mai 2022.  Titel: „Radikale Selbstverantwortung“, Untertitel „Von blauen Hunden, Ampeln und Freudemomenten“.

Ich lese und freue mich und denke: Genau. Ich bin kein hilfloser Tischtennisball.

Ich stellte und stelle mir den Januar auch vor als eine Zeit, in der ich das Fundament meines Jahres lege. Mein Jahr braucht einen starken, tragenden, fruchtbaren Boden. Er ist der Untergrund für mich und gleichzeitig eine Einladung an das Jahr, seine Tage zu entfalten. Jeder Tag ein Geschenk an mich. Jeder Tag eine Möglichkeit, meinen Aufgaben nachzugehen.

In einem Traum bin ich mit Zug unterwegs und als ich aussteige, bleibt das, was ich bei mir trage, unfreiwillig zurück.

Die Grundlagen meiner Lebensverwaltung fahren ohne mich weiter. Schlüssel, Portemonnaie (in dem alle Karten sind + das Bargeld + auch der Ausweis; ich habe offenbar nichts aus dem Verlust meiner Geldbörse im August 22 gelernt). Natürlich ist auch das Handy alleine mit dem Zug unterwegs und im Traum denke ich kurz darüber nach, ob ich mir so eine Handytasche zum Umhängen anschaffen sollte, die ich eigentlich absurd finde.

Eine Jacke habe ich auch nicht. Im Traum ist es nicht kalt, aber kühl, und keine Jacke zu haben, wo alle Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind bis auf die Möglichkeit, zu Fuß jemanden aufsuchen, der/die mir weiterhilft, lässt mich das Fehlen der Jacke bedauern.

Angst spüre ich nicht. Als ich erst einmal begreife, dass ich wirklich gar nichts mehr von dem habe, worauf ich mich sonst so selbstverständlich verlasse, wird mir sogar leicht ums Herz. Eine noch verhaltene, im Grunde aber sehr wilde und unbändige Freude lodert als kleine Flamme auf.

Die alten Muster im Zug fortfahren lassen. Mich selbst nicht messen, an dem, was mir nicht gelingt. Keine Differenz ausrechnen zwischen dem Leben, das ich führe und dem Leben, von dem mir irgendjemand mal eingeflüstert hat, es sei meines, sobald ich nur besser/richtiger etc. würde.

Freiheit vom Widerstand gegen mich selbst schafft einen Raum, der sich mit neuer Energie füllt. Nirgendwo ankommen zu müssen eröffnet die Möglichkeit, sich im Nichtwissen einzurichten. Das, worauf wir uns lange verlassen haben, ist schon längst mit dem Zug weg gefahren. Jetzt können wir endlich zustande bringen, was jenseits unserer bisherigen Vorstellungskraft liegt.

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