Im Schwert des Orion

#Freitagsbriefe aus dem Archiv

Der späteste Termin im Angebot der Kfz-Zulassungsstelle: 8.40 Uhr. Mein Wagen und ich schleichen, für meinen Geschmack viel zu früh, durch Hochnebel und den schon wieder tauenden Neuschnee des Vorabends. 15 km ins Straßenverkehrsamt der kleinen Kreisstadt. Am Ende der Prozedur habe ich ein paar sehr freundliche und ein bisschen verrückte Menschen getroffen und voller Bewunderung der Entstehung eines amtlichen Dokuments beigewohnt. Ich bin nun wieder in Besitz eines Kfz-Scheins. Warum ich einen neuen brauchte? In der Berliner U-Bahn kam mir während des Spätsommers 2020  mein Portemonnaie abhanden.

Und ja, ich hatte da alles drin, was vernünftige Menschen nach Ansicht der Polizei keinesfalls in ihrem Portemonnaie mit sich herumtragen sollten.

In den letzten zehn Jahren begegnete mir zwei Diebstähle von Wertgegenständen aus meinen Handtaschen und der Diebstahl meines Koffers aus dem Zug. Man könnte sagen, ich habe mittlerweile eine gewisse Routine entwickelt im Bestohlenwerden.

Bist du schon einmal bestohlen worden?

Es soll Menschen geben, die in ihrem Leben niemals bestohlen worden sind.

Ehrlich gesagt, ich glaube das nicht.

Ich glaube, wir verlieren in einem mehr oder weniger langen Leben immer wieder etwas durch andere, das wir eigentlich nicht hergeben wollten. Und obwohl es sich im Grunde wie Diebstahl anfühlt, würden wir es nicht als Diebstahl bezeichnen: Kein Straftatbestand erfüllt.

Falls du auf die Frage mit Nein geantwortet hast, frage ich noch einmal anders: ist dir jemals etwas weggenommen worden, das du eigentlich nicht hergeben wolltest?

Worauf ich hinaus möchte: Wir werten inhaltlich ähnliche Ereignisse aufgrund gesellschaftlicher Konventionen und innerer Befindlichkeiten sehr unterschiedlich.

Als ich in Berlin den unfreiwilligen Verlust des Portemonnaies zur Anzeige brachte, erhielt ich ein Informationsblatt für Opfer einer Straftat. Dabei fühlte ich mich gar nicht als Opfer. Ja, ich durchlitt die Phase des Schreckens, Suchens, Unglaubens, Entsetzens. Der Geldbeutel ist wirklich weg. Mit nicht wenig Geld. Und allen relevanten Papieren. Und Geldkarten. Ein Haufen Adrenalin im Körper. Der innere Film was passieren könnte, was ich aktiv verhindern musste. Ein gewisses Genervtsein, weil ich den Abend nun nicht gemütlich mit meiner Freundin ausklingen lassen konnte, die ich zur Feier ihrer Kanzleieröffnung besuchte, und statt dessen kurz vor Mitternacht noch immer auf der seltsam versteckten Polizeiwache in der Nähe des Hauptbahnhofs herumsaß. Bürokratie ist vor allem langsam.

Ansonsten ging alles schnell wieder den geordneten Gang. In meinem Körper und meinen Gedanken. Meine Freundin ist ein sehr pragmatischer Mensch. Tun, was getan werden muss. Punkt. So blieb es mir erspart, mir anzuhören, wie furchtbar doch Taschendiebstähle sind, wie unsicher die Berliner U-Bahn geworden ist, wie sehr ich zu bedauern wäre…. Etc. etc. Ich habe viel gelernt aus diesem Diebstahlsabenteuer.

Ich habe aus allen meinen Diebstahlsabenteuern viel gelernt. Wenn ich die finanziellen Verluste auf Seminarbeiträge herunterbreche und mit meinem Fortbildungsgewinn vergleiche, war die Investition mehr als angemessen.

Was ich gelernt habe?

Tatsächlich habe ich viel über Respekt und Mitgefühl und die heilsame Wirkung von Freundlichkeit am eigenen Leibe erfahren. Der Mensch, der in der Hamburger U-Bahn an mir vorbeihuschte und mein Handy aus der Handtasche nahm, die ich nach dem Automatenkauf meines Fahrscheins vor lauter schnell schnell nicht schloss, überholte mich auf der Treppe, er ging nahe an mir vorbei, ohne dass die Nähe zudringlich gewirkt hätte. Offensichtlich war er krank und angeschlagen und trotzdem griff er mit kühner Entschlossenheit zu. Und auch mit einer gewissen Eleganz. Das ist die eindringlichste Erinnerung an das Ereignis: dass ich, so seltsam es klingen mag, eine gewisse Bewunderung für den Dieb empfand. Wie er in Sekundenschnelle die Gelegenheit nutzte, die ich ihm bot.

Mein Bahndiebstahlsseminar war ungleich dramatischer. Denn: der Koffer enthielt die für die Steuerberaterin aufbereitete und zum Wegschicken fertige Quartals Buchhaltung. Sonst war außer einem Wertgegenstand nichts drin. Ich möchte diese Erfahrung trotzdem auf keinen Fall missen: im Anschlusszug, kofferlos und atemlos, erzähle ich der Schaffnerin vom Diebstahl. Ihre Reaktion gehört zu den kostbaren Edelsteinen meiner Erinnerung. Sie hörte zu. Ich bemerkte, wie sich mein ganzer Körper sich entspannte, weil diese Frau mir ihre Gegenwart, uneingeschränkte Aufmerksamkeit und ihr Mitgefühl schenkte. Die ganze Interaktion dauerte nicht länger als drei oder vier Minuten.

Wenn ich auf diese Erlebnisse zurückblicke, sehe ich sie als Knotenpunkte in den Schnüren meines Lebensgewebes. An sie knüpfen sich keine schlechten Gefühle, sondern Freudefäden. Sie haben mir interessante Begegnungen mit Menschen in Behörden beschert, die ich unter anderen Umständen nicht getroffen hätte. Sie haben mich gelehrt, dass ich die Wahl habe, ob ich mich als Opfer sehen möchte oder nicht.

Ich glaube, wenn es uns gelingt, immer wieder tief unter die Oberfläche dessen zu schauen, was uns widerfährt, sehen wir Aspekte und Möglichkeiten, die es uns ermöglichen, das Erlebte in freundlicher Weise in unser Dasein zu integrieren.

Edith Eger, 93 jährige Psychotherapeutin, Autorin, Vortragsreisende, Holocaustüberlebende, fordert ihre Patient*innen auf, zu schauen, wo das Geschenk in einem Ereignis liegt. Sie schreibt über ihren Behandlungsansatz in dem Buch The Gift.

Wo ein Geschenk zu finden ist, findet sich früher oder später meist auch Freude. Ich würde deshalb die Frage nach dem Geschenk etwas abwandeln: Wann, wo und auf welche Weise kann etwas Freudiges aus einer Belastung entstehen?

Vielleicht ist das erst auf den dritten Blick ersichtlich oder nach sehr langer Belichtungszeit.

Eine Netzwerkkollegin hat unlängst ein Foto geteilt, das ihr Mann in einer klirrend kalten Nacht eingefangen hat, mit Spezialausrüstung und mehr als sechsstündiger Belichtungszeit. Es zeigt zwei Wasserstoffemissonsnebel im Schwert des Sternbilds Orion.

So eine sternklare Nacht mit dem funkelnden Teppich des Universums über unseren Köpfen finde ich schon überwältigend. Und dann dieser tiefer Einblick in etwas, das ebenfalls da ist, und sich dem menschlichen Auge ohne Hilfsmittel nicht offenbart.

Astro-Fotografie scheint mir eine wunderbare Metapher für das von Thich Nhat Hanh sogenannte tiefe Schauen.

Wie oft bleibe ich an der Oberfläche hängen?

Wie oft gelingt es mir, tiefer zu schauen?

Die Fragen möchte ich an dich weitergeben.

Und wenn ich die Einsicht gewinne, dass ich tiefer schauen könnte und möchte, es mir jedoch nicht oder nicht immer gelingt, weil die Oberfläche, das „reale“ Ereignis, an mir haftet wie eine Klette?

Einfach immer wieder tiefes Schauen üben.

Denn, wie Marie Forleo es so schön auf den Punkt bringt:

Einsicht ohne Handlung ist nutzlos.

Herzliche Grüße

Eva Scheller

PS: Wenn dich mein Essay inspiriert oder dir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat, und du mir etwas zurückgeben möchtest, freue ich mich über einen Kaffee. Meine virtuelle Kaffeekasse steht auf der Plattform kofi.com hier und verschenkt einen Regen von Herzen und Kaffeetassen an die Spender*innen. Danke! #freundlicheökonomie

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