Die Kunst, einen Honigbaum zu finden

Kürzlich, bei einer Online Netzwerkveranstaltung, sagt mein Gesprächspartner zweimal: „Es ist sich nicht ausgegangen“. Mein aktiver Wortschatz hatte diese bayerische Redewendung vergessen.

Später fluten Fragen in mein Hirn.

Wo ist das Subjekt hingekommen?

Ist „Es hat nicht sollen sein“ eine adäquate Übersetzung?

Schicksalsgläubig oder fatalistisch?

Resignativ oder realistisch?

Während ich denke, zerteile ich einen Kopf Blaukraut (Rotkohl) und steche mich in den Finger.

Ist es sich nicht ausgegangen, dass ich unverletzt aus dem Blaukrautschneiden hervorgehe? Oder war ich einfach unachtsam vor lauter Überlegung?

Der Rotkohl ist gar, ich bin im Wald, meinen Pfad kreuzt von links ein Reh. Ich gehe weiter, bald nachher folgen dem ersten Reh vier weitere, ebenfalls von links. Ist es sich ausgegangen, dass ich zum ersten Mal in all den Jahren auf diesem Weg Rehe sehe?

Ist das Fehlen des Subjekts passender, wenn im Wald für einen kurzen Augenblick Rehe in mein Leben treten?

Nein, denke ich, denn ich komme ja trotzdem vor in dem Ereignis, indem ich eine Reihe von Entscheidungen getroffen habe, die mich just im entscheidenden Moment an jenen Wildwechselstellen eintreffen ließen. Zu den Entscheidungen gehörten auch die Mikro- und Makroverzögerungen, als ich auf dem Weg zur Haustür noch dieses und jenes bedachte, vor und zurück mäanderte, bevor ich sie endlich hinter mir schloss.

Vor ein paar Monaten wurde ich von Carina Schimmel für ihren Podcast interviewt. Ihre Gäste sind eingeladen, einen wunderbaren Gedanken mitzubringen, über den Carina mit ihnen spricht.

Mein wunderbarer Gedanke, über den wir ganz wunderbar gesprochen haben:

Es gibt immer eine Möglichkeit, den Moment mit mehr Liebe zu betrachten.

Da muss natürlich ein Subjekt dazu, und dann heißt der Satz:

Ich habe immer eine Möglichkeit, den Moment mit mehr Liebe zu betrachten.

Ist das wahr?

Liebe bringt den Ozean zum Kochen
und verwandelt den Berg in einen Kiesel.
Liebe erschafft unzählige Öffnungen
im dunklen Himmel und erschüttert
die Erde mit ihrer Herrlichkeit.
Rumi

Als ich das Interview mit zeitlicher Distanz anhöre, überrasche ich mich selbst mit meinen Ausführungen zu radikaler Selbstverantwortung.

Ich sage nicht, dass das einfach ist.

Ich sage, dass das schwierig ist.

Ich sage, dass wir oft grandios scheitern und manchmal ein kleineres oder größeres Gelingen feiern können.

Wenn ich mich richtig erinnere sage ich auch, dass der Weg alternativlos ist.

Wenn wir unser eigenes Glücklichsein nähren und unterstützen,
fördern wir unsere Fähigkeit, zu lieben.
Aus diesem Grund bedeutet zu lieben, die Kunst zu erlernen,
unsere eigenes Glücklichsein zu nähren.
Thich Nhat Hanh

Thich Nhat Hanh bringt es auf den Punkt, warum der Weg alternativlos ist. Den Moment mit mehr Liebe zu betrachten, fördert unsere Fähigkeit, Glück zu empfinden. Glück zu empfinden, nährt unsere Liebesfähigkeit.

Ja, es gibt einen Haufen Schwierigkeiten im Leben, und je nachdem, welche Muster wir als Kinder erlernt haben, fällt unsere Reaktion darauf aus. Das reicht von sich ablenken und nicht wahrhaben wollen, über Jammern zu wenig sinnvoller Hyperaktivität zu Verweigerung und Lähmung.

In allen mir bekannten Varianten richtet sich die Reaktion zunächst aufs Außen: Die beantworteten und nicht beantworteten Interaktionsangebote, die wir an unsere Eltern gerichtet haben, führen wir als Erwachsene fort. Ist da jemand oder etwas, der/die/das uns tröstet, die Schnürsenkel bindet und das Pausenbrot schmiert?

Sich aus solchen Konstellationen herauszuwinden, ist selten einfach. Der Weg führt ausnahmslos nach innen. Das Innen ist die Selbstbeziehung im gegenwärtigen Moment.

Sich selbst nähren. Sich selbst eine gute Mutter, ein guter Vater sein.

Annie Dillard schreibt, um einen Honigbaum zu finden, musst du eine Biene fangen. Eine Biene, deren Beine voller Pollen sind, denn dann wird sie zu ihrem Stock zurückkehren.

Anfang 2022 habe ich „Eine Spur roter Herzen“ geschrieben. In dem Artikel erzähle ich, wie ich anfing, meinen Tagen rote Herzen zu schenken. Die Herzen sind die Bienenbeine voller Pollen. Etwas, das mich dorthin bringt, genug Honig in meinen Tagen zu finden, dass ich anfangen kann, sie zu lieben.

Das Maß von innerer Freude, das ich erfahren kann,
ist ein Indikator, wie sehr ich in der Lage bin,
mich mitfühlend auf alle Formen von Leben einzulassen.
Das beinhaltet, sich auf mich selbst und die Art meiner Lebensgestaltung
einlassen zu können.

Je mehr Freude, je mehr Glücklichsein (Thich Nhath Hanh), desto eher bin ich in der Lage, auch auf mich selbst mit Freude und Freundlichkeit zu blicken.

Natürlich falle ich regelmäßig wieder aus dem Weg nach innen heraus. Doch das ist nicht das Thema. Ob es einmal gelingt, manchmal, regelmäßig, nie. Es geht darum, die Haltung zu kultivieren, den Ton zu setzen.

Wenn ich mich entschließe, eine Note zu singen und sie möglichst lange auszuhalten, kann ich auch nicht ununterbrochen singen. Ich muss zwischendurch atmen, meine Stimme mit Wasser befeuchten, ich setze neu an und bin vielleicht einen viertel Note zu hoch oder zu tief, schwinge mich wieder gemäß der Stimmgabel ein, gerate aus dem Tritt, muss husten, mich ausruhen, lauter werden und leiser etc. etc.

Entscheidend ist: Der Aufgabe nicht auszuweichen, sich manchmal oder öfter ihrer anzunehmen.

How we spend our days is, of course, how we spend our lives.
What we do with this hour, and that one, is what we are doing.
Annie Dillard

Jetzt ist eine gute Zeit, den Ton zu setzen für das Jahr.

Was ist dein Ton, dein Thema, deine Haltung fürs nächste Jahr?

Ich weiß, dass ich am Ende des Jahres zu mir nicht sagen möchte, dass es sich nicht ausgegangen ist.

Ich möchte die Furchtlosigkeit kultivieren, da Liebe nicht herrschen kann, wo Angst wohnt. 

Furchtlosigkeit ist das, wonach Liebe sucht….. Solche Furchtlosigkeit existiert nur in der vollkommenen Ruhe, die nicht mehr durch die Erwartung zukünftiger Ereignisse erschüttert werden kann …… Deshalb ist die einzig gültige Zeitform die Gegenwart, das Jetzt.
Hannah Arendt

Ich möchte meine Tage mit roten Herzen fluten und sie weiterfließen lassen in die Welt.

Übrigens, eine gute Form, sich dem neuen Jahr zu nähern, ist die Rückschau aufs vergehende Jahr. Ich habe zum ersten Mal 100 Dinge aufgeschrieben, die mein Jahr 2022 prägten. Das hat mir viel Freude gebracht und eine klare Idee davon, was ich im nächsten Jahr weiterführen möchte.

* „100 Dinge“ gibt es auf für 2023 und wird auch für 2024 erscheinen.

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Diesen Brief habe ich vor zwei Jahren zum Jahresende geschrieben. Ich bin immer noch dabei, Freitagsbriefe zu schreiben. Sie haben sich geändert, ich habe mich geändert, ich bin auch immer wieder am Hadern, ob oder wie ich weitermache damit.

Jetzt aber möchte ich mich ganz herzlich bei dir bedanken, dass du mich auf der Freitagsbriefereise begleitest, dass du immer wieder mitliest, weiterliest.

„Lesen ist eine Art, zuzuhören“, schreibt Ursula K. Le Guin in ihrem Essay „The Operating Instructions“.

Ich denke uns im Lesen hörst du mir beim Denken zu und manchmal ergibt sich ein Dialog daraus. Das ist für mich ein besonders kostbarer Moment.

Ich wünsche dir einen guten Übergang nach 2025. Ich wünsche dir einen guten Übergang nach 2025. Vielleicht begegnen wir uns im Neuen Jahr virtuell im Rahmen meines Projekts „Die Welt braucht mehr Stille – Commit to Sit“, das zum 2. Mal stattfindet und zwar vom 6. bis 16. Februar 2025. Alle weiteren Informationen findest du hier.

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Dieser Text erschien erstmalig als #Freitagsbriefe Essay am 30. Dezember 2022. Wenn du mehr über die #Freitagsbriefe erfahren möchtest, lies hier weiter.

Wenn dich mein Text „Die Kunst, einen Honigbaum zu finden“ inspiriert oder dir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat, und du etwas zurück geben möchtest, freue ich mich über einen Reigen von Tassen und Herzen, den meine virtuelle Kaffeekasse im Fall einer Spende über mich (und auch dich) ergießt. Du kannst den Betrag, mit dem du mich unterstützen möchtest, individuell einstellen. Danke!

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