Die große Kunst

1.
Ich lese das Buch „Small Fires“ der britischen Autorin und Foodbloggerin Rebecca May Johnson. Sie schreibt darüber, wie Küchenarbeit, traditionell als „nicht Arbeit“ klassifiziert, in der gleichen Weise wie Pflegearbeit marginalisiert wurde und wird.

Nicht von ungefähr lautet der Untertitel „An Epic in the Kitchen“. Ein Epos verhandelt feste und allgemeingültige Wert-, Sozial-, und Lebensordnungen, Johnson hat über das Werk „Niemands Frau“ der deutschen Lyrikerin Barbara Köhler promoviert, die die Odyssee nachdichtet, dabei die Erzählperspektive verändert und Penelope ins Zentrum stellt.

Penelope, die zu Hause sitzt und alles wuppen muss als alleinerziehende Königin mit einem abwesenden Ehemann, der zuerst für eine fremde Ehre in den Krieg zieht, nach Trojas Untergang ein weiteres Jahrzehnt nicht nach Hause findet und währenddessen ausgiebig in fremden Betten herumstreunt.

Köhlers bei Suhrkamp verlegtes Buch ist leider hoffnungslos vergriffen. Der Verlag schreibt im Werbetext:

„Wo Erinnern Sich-Erinnern ist, erinnert ein Sie sich anders und an anderes als Er. Anders als seine Geschichte kann ihre auch eine von vielen sein: nicht der Faden einer Erzählung, sondern ein Gewebe, ein web, an dem Frauen (und nicht nur Penelope) schon bei Homer arbeiten, das immer wieder aufgetrennt und neu verknüpft wird, verwoben.“

Johnsons Text vermisst Küche und Kochen als ein web, als Räume weiblichen Denkens, in denen gewebt und gesponnen wird, in denen stets wandelbare Gebilde, die viele tausend Fäden vereinen, die Welt im Innersten zusammenhalten. Der Epos, von dem sie berichtet, besingt die Lebensordnungen, Sozial- und Wertevorstellungen von Frauen. Aus Randbereichen werden sie plötzlich in das Zentrum gerückt, in dem sie tatsächlich immer schon standen.

Küchen sind das Herz des Hauses. Das Kochen ist ein alchemistischer Vorgang, der Tatkraft auch für Helden generiert, die draußen ihre Waffen blitzen lassen und wenig begreifen von der Liebes Müh. In ihrer Unachtsamkeit kann es schon einmal vorkommen, dass sie in Schweine verwandelt werden. Auch das ist die Macht mythischer Küchen.

Hätte Goethes Faust manchmal bei seiner Haushälterin in der Küche vorbei geschaut als er nach Erkenntnis strebte, wäre seine Geschichte nicht so schlecht ausgegangen. Oder, besser gesagt: Er hätte Gretchen nicht vernichtet und der Menschheit wäre eine Facette männlicher Gewalt in mythischer Form erspart geblieben.

Generell kommen Frauen in Mythen eher schlecht weg. Sie sind Beutegut, eine mindere Schachfigur auf dem Heiratsmarkt, taugen als Brandopfer zur Besänftigung der Götter. Wenn sie handeln, werden sie zu blutdürstigen Erinnyen, Verräterinnen, fallen dem Wahnsinn anheim. Selbst als Göttinnen sind sie rachsüchtig, unberechenbar und nicht gerecht.

Wenn wir die Welt neu denken wollen, damit sie sich wandelt, müssen wir in alle Ecken und Winkel hineindenken, jeden Kieselstein unserer kollektiven Erinnerungen und Überzeugungen umdrehen, und vor allem immer wieder lineare Erzählungen in Frage stellen, die nur den kleinsten Teilaspekt transportieren. Wie winzig ist doch ein einzelner Faden inmitten eines Weltenteppichs.

The village is always on fire.
Men stay away from the kitchens,
take up in outhouses with concrete floors,
while the women – soot in their hair –
initiate the flames into their small routines.
Sophie Collins.

Das Gedicht “Untitled” der niederländischen Dichterin Collins, die im schottischen Glasgow lebt, stellt Johnson dem ersten Kapitel „Prologue in the Kitchen“ voran.

Es wird sofort klar: Das Feuer ist immer da, es brennt im Zentrum, die Frauen in ihren Küchen sind seine Priesterinnen, der Ruß in ihrem Haar zeugt von dem Initiationsritual, das sie ein ums andere Mal wiederholen. Sie sind die Wissenden.

Die Männer hingegen lagern auf Betonfußböden in Nebengebäuden. In die Küchen kommen sie nie. Draußen ist die Welt kalt und hart. Drinnen absorbieren die Körper die Hitze, während die Tomatensauce auf dem Herd kocht und zischt, und manchmal bewegen sich die Kochenden tanzend zwischen den Töpfen.

Im Projekt der Befreiung sind Vergnügen und Lebensfreude nicht nebensächlich.
Rebecca May Johnson.

2.
„Small Fires“ entdeckte ich während meines letzten Besuchs in London. In der Buchhandlung fiel mein neugieriger Blick ebenfalls auf den Roman „Breasts and Eggs“ der japanischen Autorin Mieko Kawakami.

Wieder zu Hause recherchiere ich, ob es eine deutsche Übersetzung gibt und falls ja, ob direkt aus dem Japanischen übersetzt wurde. Wenn ich einen fremdsprachigen Roman in Übersetzung lesen muss, kann es meine Muttersprache sein, in der ich ihn mir zulege.

Ins Englische habe ich bereits hineingelesen. Kurze klare Sätze, ein Sound, der mich sofort mitnimmt. Vielversprechend.

Warum ich auf die Idee komme, die Übersetzungen zu vergleichen, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich die Kunst des literarischen Übersetzens für eine der größten Künste überhaupt halte.

Und dann komme ich nicht darüber hinweg, dass aus dem einen Buch einer japanischen Autorin zwei völlig verschiedene Bücher geworden sind. Wo das Englische klar und knapp ist, ist das Deutsche geschwätzig und das liegt nicht daran, dass im Deutschen vieles umständlich durch Relativsätze oder Satzeinschübe ausgedrückt werden muss, wofür das Englische mit zwei Worten auskommt.

Ich finde so viele entscheidende Abweichungen, dass ich es immer noch nicht fassen kann. Ein kleines Beispiel: Was in der englischen Übersetzung ein ramponierter durchsichtiger Regenschirm ist, ist in der deutschen eine zerknauschte Plastiktüte.

Kate Briggs nennt ihren monumentalen Essay über die Arbeit des literarischen Übersetzens „This Little Art“. Der Titel ist ein Zitat der Amerikanerin Helen Lowe-Porter, die in den 1920iger Jahren im englischen Oxford Thomas Manns „Buddenbrocks“ übersetzte. Mann war von ihrer Arbeit beeindruckt, sie blieb fast 40 Jahre lang die Übersetzerin seiner Werke.

In den 1980iger Jahren erschien eine englische Neuübersetzung der „Buddenbrocks“ und Lowe-Porters Sprache wurde als zu viktorianisch kritisiert (von einem männlichen Rezensenten).

Als ich das lese und versuche, mir aus allem einen Reim zu machen – zwei unterschiedliche Bücher, die auf einen Ursprungstext zurückgehen, die Zufriedenheit eines Schriftstellers mit der Übertragung seines Werks und die spätere Kritik an der Sprache, die die Übersetzerin verwendet, der alten Epos, der eine Nachdichtung erfährt, die die Rollen der Figuren verändert und Sozial- und Werteordnungen umstürzt, die neapolitanische Tomatensauce, die Johnson in einem Selbstversuch 1000 Mal nachkocht und die jedes Mal anders ist,  – denke ich:

Das sind wir. Das ist jeder einzelne Mensch. Wir müssen uns immer übersetzen für die Welt, und die Welt übersetzt uns.

Heraus kommen unterschiedliche Texte, unterschiedliche Lesarten, Missverständnisse, Verwirrung, Übereinstimmung, oft fehlende Flexibilität. Die entscheidende Frage: Wer nimmt die Deutungshoheit für sich in Anspruch?

Selbst wenn wir ein Rezept haben, ist das Ergebnis offen. Menschen sind wandelnde Faktoren, keine binären

Zahlenreihen, und Wahrheit ist lediglich der momentane Stand des Irrtums. Ein Regenschirm ist eine Plastiktüte oder umgekehrt.

Wir lassen uns so viel einreden und vorschreiben, nehmen Grenzen in Kauf, und stellen nicht einmal im Ansatz in Frage, dass es anders sein könnte. Eine andere Lesart, eine andere Übersetzung, ein anderes System.

Es ist die große Kunst, alles zusammenzufügen zur Erzählung der eigenen Geschichte, die facettenreich ist, widersprüchlich, voller Kälte, verschmiert mit Ruß und spritzender Tomatensauce, voller Seligkeit, Gelingen und Glück.

Eine Geschichte, die alle Schönheit der Welt in sich trägt. Sie ändert sich wie die Tomatensauce beim Kochexperiment, darin liegt ihre Wahrhaftigkeit.

Wenn wir die Welt neu denken wollen, müssen wir auch in alle Ecken und Winkeln hineindenken, in denen wir die Vorschriften gelagert haben, wie „es“ richtig wäre, wie wir zu sein hätten.

Jeden Tag eine kleine Revolution gegen die Erwartung, gegen den Anspruch, gegen den alten Epos, gegen alles, was unseren Herzen widerstrebt.


Dieser Text erschien als #Freitagsbriefe Essay am 9. Februar 2024. #freitagsbriefe kannst du abonnieren. Als kostenfreien Archivbrief oder druckfrisch im Crowdfunding Modell, um meine Arbeit zu unterstützen. Wenn du mehr über die #Freitagsbriefe erfahren möchtest, lies hier weiter.

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