We Are The Champions For Our World

Svenja Gräfen schreibt in ihrem Buch „Radikale Selbstfürsorge Jetzt! Eine feministische Perspektive“ über den bewussten Umgang mit Nachrichten. Tatsächlich müssen wir uns als Gesellschaft Gedanken machen über sekundäre Traumatisierung durch Nachrichtenkonsum. Dass das überhaupt ein Thema ist, das unzählige Menschen betrifft, sagt viel unsere gemeinschaftliche Verfasstheit.

Gräfen schlägt Pausen und Auszeiten für Nachrichten- und Social-Media-Konsum vor. Sie rät ausdrücklich nicht, nur noch positive Nachrichten zu lesen. Und ich frage mich sofort, ja, warum denn nicht? Wer sagt denn, dass Nachrichten zu 100% die größeren und kleineren Katastrophen der Menschheit frei Haus liefern müssen? Und ich verpflichtet wäre, das zur Kenntnis zu nehmen?

Vor Jahren auf einem Retreat bei Thich Nath Hanh hörte ich den Satz, man müsse sich nicht mit Nachrichten beschäftigen. Was wichtig sei, würde rechtzeitig zu einem kommen. Damals war ich von dieser Überlegung nachhaltig beunruhigt.

Das hat sich mittlerweile geändert.

Ich weiß, wichtige Nachrichten kommen bei mir an. Obwohl ich schon länger meine Tageszeitung aufgegeben habe und nicht mehr so oft Radio höre.

Zum Beispiel die Nachricht, dass die norwegischen Sportlerinnen bei der Beach Handball Europameisterschaft im Juli 2021 geschlossen mit Shorts statt mit Bikinihosen antraten. Und dass die deutschen Turnerinnen bei den Olympischen Spielen in Tokio Ganzkörperanzüge trugen.

Warum das wichtige Nachrichten sind? Weil die Norwegerinnen für ihre Shorts vom Europäischen Handball Verband (EHF) mit einer Strafzahlung belegt wurden. Und plötzlich die sexistischen Kleidungszwänge im Frauensport am Pranger stehen.

Wie ist eigentlich die Welt entstanden? Gab es von Anfang an antagonistische Gegensätze zwischen den Geschlechtern?

Was würdest du auf die Frage antworten?

Die indische Schöpfungsgeschichte erzählt von Prajapati, dem ersten aller Wesen, der in sich eine unbekannte Bewegung fühlte. Was wollte entstehen? Vielleicht ein neuer Tanz? Prajapati folgte der Bewegung. So entstanden Erde und Firmament. Die ganze Welt entstand aus Prajapatis unendlicher Fülle.

Inmitten der Fülle der Welt verspürte Prajnapati, der Gott der Fülle, plötzlich Angst, Trauer, Einsamkeit. Und fühlte aufs Neue eine unbekannte Bewegung. Und wieder ließ er die Bewegung zu. Und wieder entstanden Erde und Firmament, alle Geschöpfe und Wesen. Doch diesmal entstand die Welt aus Angst, Trauer und Einsamkeit. Und erst als die zweite Welt entstanden war, wurde die Welt in ihrer Gesamtheit sichtbar.

Ja, denke ich, als ich Michael Meade diese Geschichte erzählen höre. Das macht Sinn. Zwei Welten. Die Welt der Ausdehnung und die Welt des sich Zusammenziehens. Beide zusammen genommen ergeben den Puls unseres Lebens.

Fülle ist die Bewegung des Wachstums und der Ausdehnung, der Großzügigkeit, in der Fülle regiert die Verbundenheit, es gibt es keine Hierarchie, keine Dominanz.

Im Zustand der Fülle sind wir großzügig, verbunden, zuversichtlich.

Angst ist Sorge, Begrenztheit, Enge, Kontraktion.

Im Zustand der Sorge und Angst sehen wir nicht über unseren Tellerrand. Wir sehen die Grenzen und das, was trennt. Wir teilen die Welt in „wir“ und „die“. Männer, die sich herausnehmen, Frauen einen Platz zuzuweisen. Frauen, die im 21. Jahrhundert von männlich dominierten Verbänden gezwungen werden, ihren Körper zur Schau zu stellen, wenn sie um sportliche Auszeichnungen kämpfen.

Ich glaube, es ist wichtig, sich jeden Tag zu fragen: in welcher der beiden Welten lebe ich gerade? Wenn ich in der engen Welt bin, wechsle ich zwischen den beiden Welten? Öfter? Weniger oft? Nie?

Wie und mit was nähre ich mich? Ist meine Speise die der Ausdehnung? Oder füttere ich mich mit dem, was zusammenzieht?

Für mich ist die Spur der Freude Ausdehnung und Fülle. Ein Ort, von dem aus ich der Welt freundlicher gegenüber treten kann. Nein, es ist nicht so, dass ich das zweite Gesicht der Welt nicht zur Kenntnis nehme. Ich kann es nur anders zur Kenntnis nehmen, wenn ich offen und großzügig gestimmt bin.

Ebenso wie die Entscheidung für Selbstfürsorge im Sinne von Gräfen ist die Entscheidung für Freude ein radikaler Akt. Freude setzt einen Kontrapunkt. Sie lädt zum Innehalten ein und zum Durchatmen. Sie schenkt Kraft für das, was traurig, schwer oder vergeblich ist. Mit Schwierigkeiten und Beschränkungen leben zu müssen bedeutet nicht zwangsläufig, in sich selbst nur Gefühle von Angst, Trauer, Einsamkeit zuzulassen.

Juan Ramon Jimenez, Literaturnobelpreisträger von 1956, erinnert uns an das, was auch in uns lebt, immer. Selbst wenn wir diese Seite vergessen.

ICH BIN NICHT ICH.


Ich bin jener,
der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke,
den ich oft besuche,
und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.

Der Text lässt sich auch in der weiblichen Form lesen bzw. sprechen. Probiere es aus. 

Noch eine gute Nachricht zum Schluss: die norwegischen Beach Handballerinnen mussten die Strafe nicht persönlich zahlen, ihr Verband hat das übernommen. Und der EFH, der die Strafzahlung verhängte und kassierte, kündigte an, die Summe an „eine bedeutende internationale Sportstiftung“ zu spenden, die sich für die Gleichstellung von Mädchen und Frauen im Sport einsetzt.

Das ist ein bisschen absurd.

Die Sängerin Pink hatte dem Vorfall größte Aufmerksamkeit verschafft, als sie ankündigte, die Strafzahlung für die Sportlerinnen übernehmen zu wollen.

Das musste sie am Ende nicht tun. Ihr Lied zum Thema, für uns alle: We are the Champions. Ich möchte hinzufügen: For Our World.

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