Das Leben vom Ende her denken

Eine Freundin aus dem Nachbardorf ist gestorben. Ich habe sie in den letzten Jahren selten gesehen. Ihre Präsenz ein paar Kilometer weiter konnte ich dennoch spüren. Sie füllte und hielt einen Raum mit einer bestimmten Energie, die lebendig pulsierte und nährte.

Ich erinnere mich an ein besonders intensives Gespräch unter dem Schleppdach vor einem damals fast zerfallenden Stallgebäude. Das Gebäude ist mittlerweile renoviert, bei meinem letzten Besuch habe ich es bewundert. Es atmet ihre Fähigkeit, alles, was sie anfasste, künstlerisch zu gestalten.

Mir ist Tod unbegreiflich. Ja, Menschen hören auf zu atmen und Körper vergehen. Trotzdem sind sie alle noch da, die Toten, die mein Leben berührt haben.

Die Gabe der Freundin, die Schönheit der Welt in einen Lebenskontext zu setzen und ihre großzügige Herzlichkeit verschwinden nicht. Sie erfüllen weiterhin den Raum, den sie bestellt hat wie einen weiten Acker, auf dem die Blüten größer waren als das Unkraut.

Ich stelle mir vor, wir alle erschaffen eine energetische Essenz unseres Seins, die sich verwebt mit dem Leben, das uns umgibt, die ausstrahlt und in den letzten Winkel des Kosmos reicht.

Doug Good Feather schreibt in seinem Buch „Think Indigenous“ :

The first prayer we send out into the world is our first exhale.

Er fährt fort, dass vom Tag unserer Geburt jedes Einatmen ein Segen und jedes Ausatmen ein Gebet sei.

Der Ausatem trägt unser Tun, unsere Gedanken, unser Sein in die Welt. Als Baby war das eine einfache Geschichte: Schauen und lächeln, sobald alle Grundbedürfnisse erfüllt waren. Es hat einen Grund, warum die meisten Menschen die Aufmerksamkeit kleiner Kinder erhaschen wollen und mit ihnen flirten. Sie atmen Freude und Wohlwollen aus, das Staunen über das, was ist. Die Neugier auf das Königreich hinter den kleinen Kieselsteinen, die Quarzeinschlüsse in der Sonne glitzern lassen. Das Vertrauen in Fürsorge und Güte.

Die Verbindung wird brüchig. Vielleicht reißt sie in manchen Fällen ganz ab. Im besten Fall verbringen wir große Teile unseres Erwachsenenlebens auf der Suche nach den verborgenen Schatzkammern. Im schlechtesten Fall merken wir nicht einmal, was wir verloren haben.

My work is to love the world”, schreibt die amerikanische Dichterin und Pulitzer Preisträgerin Mary Oliver (1935 – 2019).

Wer kann das schon so auf den Punkt bringen, wenn nicht eine Dichterin?

Doch was bedeutet es, die Welt zu lieben?

Katherine May erzählt in ihrem Buch „Enchantement“ die Geschichte von Jean Low, einer Töpferin, die ihrer Berufung erst im Rentenalter  folgte. Sie schuf Steine aus Ton. Im Prozess des Gestaltens studierte sie Felsen und Steine, die in der Natur zu finden waren. Sie ließ sich u.a. inspirieren von den „Nine Maiden Stones“ die in Cornwall aufgereiht stehen und dort entlang einer Straße aufgrund ihrer vielen Quarzeinschlüsse sich zu allen Tageszeiten von der sie umgebenden Landschaft abheben.

Ein bisschen gruselig, und gleichzeitig freundlich, so sah Jean Low ihre Ton-Steine, die eine Prise Andersartigkeit in brave Vorgärten brachten.

Ich recherchiere nach der mittlerweile verstorbenen Künstlerin, ich hätte gerne ein Bild ihrer Steine gesehen. Was ich finde, ist der Nachruf eines Töpfer-Kollegen, der von ihr lernte und voller Liebe und Hochachtung über sie schreibt.

Auch wenn sie keine sichtbaren online Spuren hinterließ, ist Jean Low in meinen Gedanken gegenwärtig mit ihrem Tun. Sie hat Steine lesen können, sie übersetzt in ihre Kunst und als subversive Skulpturen weitergereicht. Neben ihren Kindern, ihren Enkelkindern und ihrem Mann hat Jean Low sich Steine zum Lieben auserkoren.

Zu lieben heißt, die Welt mit offenen Augen zu sehen, mit Augen, die nicht schon alles wissen.

Meine Freundin sah in Wurzeln und Zweigen Geschichten, Abenteuer und ein Geschenk. In meiner Küche steht ein Kerzenleuchter, den sie mir aus einem Stück Birke schnitt, in das sie eine Öffnung fräste, die einen Weinkelch aufnahm, der den größten Teil seines Standfußes verloren hatte.

In der Mittagspause schneide ich Zucchini und bemerke verwundert, dass ich nicht nur voller Aufmerksamkeit für mein Tun, sondern auch ergriffen bin von meiner Tätigkeit. Jeder Schnitt, jede Scheibe ein Teil des wundersamen Weges zu einer warmen Mahlzeit.

Jede Handlung eine Transformation. Von welcher Intention ist sie getragen? In welcher Weise wirkt sie sich aus?

Jeder Einatem ein Segen, jeder Ausatem ein Gebet.

We need to connect with that awe, with that sense of gratitude and reverence every day,

schreibt Doug Good Feather.

Das englische Wörtchen “Awe” hat es mir angetan. Gesprochen klingt es ein bisschen wie ein offenes „O“ und lautmalt das Staunen. Anders als unser entsprechendes Wort „Ehrfurcht“, in dem Furcht der prominente Faktor scheint.

I like that fear is in there as well, not because I walk around afraid of the majesty that is life, but because it hints at the presence of death woven into the fabric of our impermanent existence.,

beschreibt Jacqueline Suskin ihre Beziehung zu „awe“ in der poetischen Lebensanweisung „Every Day is a Poem“.

Liebe und ehrfürchtiges Staunen gehen Hand in Hand und wenn die Welt zu lieben auch nicht für jede*n im Zentrum ihres Wirkens steht, gehört es doch zu unserer aller Jobbeschreibung.

Das gelingt mal mehr, mal weniger. Je mehr es gelingt, desto reichhaltiger der Acker unseres Lebensumfeldes, desto mehr Blüten finden wir dort und desto weniger Unkraut.

Vielleicht sollten wir immer wieder einmal unser Leben vom Ende her denken, zumal in Zeiten, in denen die Türen zur Selbstwertschätzung sich verschließen.  

Was andere über uns denken, wie sie uns fühlen, in welcher Weise wir nähren, fördern, einen Platz halten und füllen, mit liebenden Augen dazu beitragen, etwas in die Kostbarkeit zurückzusetzen, das als gewöhnlich missverstanden wird.

The fact that it could all be gone at any moment, that all of our experience is tangled up with so much pain and loss, is part of why it’s so amazing to rejoice in every offering that life throws in our way.

Jacqueline Suskin

Wie könntest du dein Leben vom Ende her denken?

Lass einen Kommentar zurück und webe auf diese Weise mit am Webseiten Wortgarten. Dankeschön!

Herzliche Grüße
Eva

Comments (2)

  1. Liebe Eva,

    Herzensdank für diesen Freitagsbrief.
    Besonders angesprochen hat mich der Gedanke vom Einatmen als Segen und vom Ausatmen als Gebet. Das nehme ich mich nun mit in mein Wochenende.

    Viele Grüße vom Chiemsee
    Ulrike

    • Liebe Ulrike,

      dankeschön!

      Für mich ist dieses Einatmen-Ausatmen wie ein Wiegenlied, das mich im Kosmos geborgen sein lässt.
      Ich wünsche dir ein wunderbares Wochenende.

      Herzliche Grüße Eva

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