Wie wir unser Sehen und Denken befreien und real werden.
Am Morgen finde ich die Nachricht einer Leserin. Sie schreibt, Freude komme vom Real-Werden. Ja, denke ich, so ist es. Ich bin ganz verliebt in diese wunderbare Formulierung.
Am Nachmittag lese ich im Buch „Freude“ von Daniel Odier den Satz: „Wenn man einen Menschen findet, der in der Realität verankert ist, wird man beobachten, dass allein die Freude unabhängig von jeglichem äußeren Faktor ist“.
Mmh, denke ich, schwere Kost. Freude ist ein Tun-Wort und tut sich im Fangzaun vieler Substantive eher schwer.
Freude ist außerdem eine Tänzerin und verträgt genagelte Schnürschuhe nicht so gut.
Und überhaupt – was ist „Realität“?
Weißt du, was Realität ist?
Wie erklärst du das einem Kind, zum Beispiel?
Mir fällt als erstes ein: DIE Realität gibt es nicht. Als zweites schaue ich in Wikipedia nach.
Als drittes verfange ich mich in einem umfangreichen Netz von philosophischen Annahmen und Konstruktionen und werde viertens aufs freundlichste bestätigt von einer weiteren Wikipedia Definition:
„In der Wahrnehmung einer Fledermaus oder eines Wurmes gibt es allerdings eine ganz andere „Wirklichkeit“ als in der naturwissenschaftlich geprägten Wahrnehmung des modernen Menschen.“
Ja, nicht nur in der Wahrnehmung von Fledermäusen und Würmern, sondern auch von Kleinkindern, Mystiker*innen, Quantenphysiker*innen, Astronautinnen und indigenen Völkern gibt es jeweils andere Wirklichkeiten.
Wir können ein bisschen was vermessen. Zum Beispiel die Länge, Breite und Schwere eines Fahrrads oder Kraftfahrzeuges. Wir können die Augenfarbe benennen und den Ort der Geburt.
Und darüber hinaus?
Als Skywoman durch ein Loch im Himmel auf die Erde fiel, trudelte sie wie ein Ahornsamen. Sie fiel lange, unter sich nichts als dunkles Wasser. Die Gänse sahen sie kommen, stiegen auf und dämpften ihren Fall. Als sie sie nicht mehr halten konnten, erschien die große Schildkröte und bot ihren Rücken an.
So beginnt der Schöpfungsmythos ihres Volkes, den Robin Wall Kimmerer, Biologin und Angehörige der Nation der Potawatomi, an den Anfang ihres wunderbaren Buches stellt.
Ich würde sagen, wer das Feuerwerk der Wirklichkeit erkennt und also die Fähigkeit erlernt hat, das wahrzunehmen, was ist, kann gar nicht anders, als ein freudiger Mensch zu sein. Die Wirklichkeit, das Real-Werden, sind in Freude gegründet. Denn Freude nährt die Wurzeln alles Seins.
Ich weiß nicht, ob ich jemals ein schöneres Buch gelesen habe. Ich weine oft beim Lesen. Nicht, weil es so traurig wäre. Ja, es ist auch traurig. Doch vor allem berührt es mich tief.
Die Geschichte von Skywoman ist die Geschichte von Geben und Nehmen. Von Verlust und Wachstum. Von Hingabe und einem Bündnis zwischen der Menschenfrau und den Tieren. Vom Begrüßt- und Empfangenwerden.
Mit dem Schlamm, den die Tiere unter Einsatz ihres Lebens aus den Tiefen des Ozeans herauftauchen, erschafft Skywoman auf dem Rücken der Schildkröte einen Garten.
Der Garten dient dem für Wohlbefinden aller.
Skywoman sät die Samen, die sie mitgebracht hat.
Der Garten nährt Mensch und Tier. Alle sind in diesen Garten eingeladen.
Kimmerer schreibt, auf der anderen Seite der Erde gab es auch einen Garten und eine Frau. Die Frau wurde aus ihrem Garten verbannt, als sie von der Fülle der Früchte kostete. Sie verlor ihre Heimat und lebte als Ausgestoßenen. Ihr wurden keine Samen mitgegeben, sondern der Auftrag, sich die Erde untertan zu machen.
Egal, wie fern die Mythen unserer Kulturen unserem individuellen Gedächtnis sein mögen, sie formen unser Verständnis der Welt.
Kimmerer berichtet von einer Umfrage unter ihren Student*innen der Ökologie. Auf die Frage, welche positiven Interaktionen zwischen Menschen und dem Land sie kennen würden, war die überwiegende Antwort: keine.
„Wie ist es möglich, dass sie nach zwanzig Jahren Schulbildung nicht an eine einzige hilfreiche Beziehung zwischen Menschen und der Umwelt denken können? Vielleicht haben die negativen Beispiele, die sie täglich sehen … ihre Fähigkeit untergraben, etwas Gutes zwischen den Menschen und der Erde zu sehen. So, wie das Land verarmt, verarmt auch ihr Blick.“
Die Realität der jungen Leute, die sich beruflich im Umweltschutz engagieren wollten, wurzelte nicht im Erbe von Skywoman. In der Großzügigkeit der Gänse und in der demütigen Dankbarkeit der Menschenfrau.
Ich glaube, Real-Werden bedeutet, immer mehr in dem zu gründen, was sich nicht sehen und nicht vermessen lässt. Es geht nicht um den Stand des Bankkontos, den Titel an der Bürotür, die PS Zahl unter der Haube oder sich etwas untertan zu machen.
Es geht um das, was möglich ist, wenn wir aufhören, unseren Erfolgskonzepten hinterherzulaufen. Wenn wir anfangen, uns zu weigern, den Preis zu zahlen, den das Leben nach den gesellschaftlich anerkannten Kriterien fordert.
Die angehenden Umweltschützer*innen in Kimmerers Klasse kannten nach 20 Jahren Schulerziehung keine andere Möglichkeit, als eine ausbeuterische Beziehung mit der Erde. Mich wundert das nicht.
Am Ende ihrer Grundschulzeit ist die Anpassung des Leistungskorsett regelmäßig so erfolgreich, dass die meisten Kindern ihre ursprünglich vorhandene Kreativität verloren haben. Das ist ein hoher Preis, den wir bereits in jungen Jahren zahlen. Und es ist nicht der einzige oder letzte.
Real-Werden erfordert eine Dekonstruktion, einen Rückbau der angelernten Verformungen, die den Blick einengen und der Phantasie die Flügel stutzen. So, wie Bäche und Flüsse von ihren Betonbetten befreit und renaturiert werden, braucht unser Denkes und Fühlen freien Fluss, und Auslauf. Jenseits von Entweder-oder, schwarz oder weiß.
Real-Werden bedeutet, die Augen zu öffnen für das, was ist. Fünf Finger an der Hand. Am Morgen der Tau. Die Freundlichkeit im Blick, wenn wir auf den Menschen schauen, der uns gerade begegnet.
Real-Werden bedeutet auch, das zu sehen, was wir nicht gelernt haben. Die Reziporzität und Dankbarkeit in allen Beziehungen zu spüren. Die Erkenntnis, dass alles zusammenhängt.
Charlie Brown: „Eines Tages werden wir alle sterben“.
Snoopy: „Ja, das stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht“.
Auch das ist eine Form des Real-Werdens: begreifen, dass das Leben sich jeden Tag lebt. Und dass wir das meiste verpassen, wenn wir immer nur auf ein Ziel schauen oder das Ende in den Blick nehmen.
Bei der Tatsache, dass das Leben sich lebt, ob wir wollen oder nicht, kommt die Freude ins Spiel. Daniel Odier sagt:
„Der freudige Mensch ist empfänglich für das Feuerwerk der Wirklichkeit“.
Natürlich empfehle ich an dieser Stelle ganz dringend, sich mit Freude zu befreunden, und sie einzuladen als Gefährtin und Kompassgeberin auf dem Weg der Veränderung.
Komm mit zu der Abenteuerreise auf der Spur der Freude, die in einer Woche beginnt. Leser*innen der #Freitagsbriefe bekommen bis zum 20.6. um 24 Uhr einen Rabatt von € 20 auf den freudigen Reisepreis. Schreib mir einfach mit dem Stichwort „Freitagsbriefe“ an hallo@eva-scheller.de
Hiererfährst du mehr über die Reise. Sie trägt auf alle Fälle zum Real-Werden bei.
Wie wir unser Sehen und Denken befreien und real werden.
Am Morgen finde ich die Nachricht einer Leserin. Sie schreibt, Freude komme vom Real-Werden. Ja, denke ich, so ist es. Ich bin ganz verliebt in diese wunderbare Formulierung.
Am Nachmittag lese ich im Buch „Freude“ von Daniel Odier den Satz: „Wenn man einen Menschen findet, der in der Realität verankert ist, wird man beobachten, dass allein die Freude unabhängig von jeglichem äußeren Faktor ist“.
Mmh, denke ich, schwere Kost. Freude ist ein Tun-Wort und tut sich im Fangzaun vieler Substantive eher schwer.
Freude ist außerdem eine Tänzerin und verträgt genagelte Schnürschuhe nicht so gut.
Und überhaupt – was ist „Realität“?
Weißt du, was Realität ist?
Wie erklärst du das einem Kind, zum Beispiel?
Mir fällt als erstes ein: DIE Realität gibt es nicht. Als zweites schaue ich in Wikipedia nach.
Als drittes verfange ich mich in einem umfangreichen Netz von philosophischen Annahmen und Konstruktionen und werde viertens aufs freundlichste bestätigt von einer weiteren Wikipedia Definition:
„In der Wahrnehmung einer Fledermaus oder eines Wurmes gibt es allerdings eine ganz andere „Wirklichkeit“ als in der naturwissenschaftlich geprägten Wahrnehmung des modernen Menschen.“
Ja, nicht nur in der Wahrnehmung von Fledermäusen und Würmern, sondern auch von Kleinkindern, Mystiker*innen, Quantenphysiker*innen, Astronautinnen und indigenen Völkern gibt es jeweils andere Wirklichkeiten.
Wir können ein bisschen was vermessen. Zum Beispiel die Länge, Breite und Schwere eines Fahrrads oder Kraftfahrzeuges. Wir können die Augenfarbe benennen und den Ort der Geburt.
Und darüber hinaus?
Als Skywoman durch ein Loch im Himmel auf die Erde fiel, trudelte sie wie ein Ahornsamen. Sie fiel lange, unter sich nichts als dunkles Wasser. Die Gänse sahen sie kommen, stiegen auf und dämpften ihren Fall. Als sie sie nicht mehr halten konnten, erschien die große Schildkröte und bot ihren Rücken an.
So beginnt der Schöpfungsmythos ihres Volkes, den Robin Wall Kimmerer, Biologin und Angehörige der Nation der Potawatomi, an den Anfang ihres wunderbaren Buches stellt.
„Geflochtenes Süssgras“.
Ich würde sagen, wer das Feuerwerk der Wirklichkeit erkennt und also die Fähigkeit erlernt hat, das wahrzunehmen, was ist, kann gar nicht anders, als ein freudiger Mensch zu sein. Die Wirklichkeit, das Real-Werden, sind in Freude gegründet. Denn Freude nährt die Wurzeln alles Seins.
Ich weiß nicht, ob ich jemals ein schöneres Buch gelesen habe. Ich weine oft beim Lesen. Nicht, weil es so traurig wäre. Ja, es ist auch traurig. Doch vor allem berührt es mich tief.
Die Geschichte von Skywoman ist die Geschichte von Geben und Nehmen. Von Verlust und Wachstum. Von Hingabe und einem Bündnis zwischen der Menschenfrau und den Tieren. Vom Begrüßt- und Empfangenwerden.
Mit dem Schlamm, den die Tiere unter Einsatz ihres Lebens aus den Tiefen des Ozeans herauftauchen, erschafft Skywoman auf dem Rücken der Schildkröte einen Garten.
Der Garten dient dem für Wohlbefinden aller.
Skywoman sät die Samen, die sie mitgebracht hat.
Der Garten nährt Mensch und Tier. Alle sind in diesen Garten eingeladen.
Kimmerer schreibt, auf der anderen Seite der Erde gab es auch einen Garten und eine Frau. Die Frau wurde aus ihrem Garten verbannt, als sie von der Fülle der Früchte kostete. Sie verlor ihre Heimat und lebte als Ausgestoßenen. Ihr wurden keine Samen mitgegeben, sondern der Auftrag, sich die Erde untertan zu machen.
Egal, wie fern die Mythen unserer Kulturen unserem individuellen Gedächtnis sein mögen, sie formen unser Verständnis der Welt.
Kimmerer berichtet von einer Umfrage unter ihren Student*innen der Ökologie. Auf die Frage, welche positiven Interaktionen zwischen Menschen und dem Land sie kennen würden, war die überwiegende Antwort: keine.
„Wie ist es möglich, dass sie nach zwanzig Jahren Schulbildung nicht an eine einzige hilfreiche Beziehung zwischen Menschen und der Umwelt denken können? Vielleicht haben die negativen Beispiele, die sie täglich sehen … ihre Fähigkeit untergraben, etwas Gutes zwischen den Menschen und der Erde zu sehen. So, wie das Land verarmt, verarmt auch ihr Blick.“
Die Realität der jungen Leute, die sich beruflich im Umweltschutz engagieren wollten, wurzelte nicht im Erbe von Skywoman. In der Großzügigkeit der Gänse und in der demütigen Dankbarkeit der Menschenfrau.
Ich glaube, Real-Werden bedeutet, immer mehr in dem zu gründen, was sich nicht sehen und nicht vermessen lässt. Es geht nicht um den Stand des Bankkontos, den Titel an der Bürotür, die PS Zahl unter der Haube oder sich etwas untertan zu machen.
Es geht um das, was möglich ist, wenn wir aufhören, unseren Erfolgskonzepten hinterherzulaufen. Wenn wir anfangen, uns zu weigern, den Preis zu zahlen, den das Leben nach den gesellschaftlich anerkannten Kriterien fordert.
Die angehenden Umweltschützer*innen in Kimmerers Klasse kannten nach 20 Jahren Schulerziehung keine andere Möglichkeit, als eine ausbeuterische Beziehung mit der Erde. Mich wundert das nicht.
Am Ende ihrer Grundschulzeit ist die Anpassung des Leistungskorsett regelmäßig so erfolgreich, dass die meisten Kindern ihre ursprünglich vorhandene Kreativität verloren haben. Das ist ein hoher Preis, den wir bereits in jungen Jahren zahlen. Und es ist nicht der einzige oder letzte.
Real-Werden erfordert eine Dekonstruktion, einen Rückbau der angelernten Verformungen, die den Blick einengen und der Phantasie die Flügel stutzen. So, wie Bäche und Flüsse von ihren Betonbetten befreit und renaturiert werden, braucht unser Denkes und Fühlen freien Fluss, und Auslauf. Jenseits von Entweder-oder, schwarz oder weiß.
Real-Werden bedeutet, die Augen zu öffnen für das, was ist. Fünf Finger an der Hand. Am Morgen der Tau. Die Freundlichkeit im Blick, wenn wir auf den Menschen schauen, der uns gerade begegnet.
Real-Werden bedeutet auch, das zu sehen, was wir nicht gelernt haben. Die Reziporzität und Dankbarkeit in allen Beziehungen zu spüren. Die Erkenntnis, dass alles zusammenhängt.
Charlie Brown: „Eines Tages werden wir alle sterben“.
Snoopy: „Ja, das stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht“.
Auch das ist eine Form des Real-Werdens: begreifen, dass das Leben sich jeden Tag lebt. Und dass wir das meiste verpassen, wenn wir immer nur auf ein Ziel schauen oder das Ende in den Blick nehmen.
Bei der Tatsache, dass das Leben sich lebt, ob wir wollen oder nicht, kommt die Freude ins Spiel. Daniel Odier sagt:
„Der freudige Mensch ist empfänglich für das Feuerwerk der Wirklichkeit“.
Natürlich empfehle ich an dieser Stelle ganz dringend, sich mit Freude zu befreunden, und sie einzuladen als Gefährtin und Kompassgeberin auf dem Weg der Veränderung.
Komm mit zu der Abenteuerreise auf der Spur der Freude, die in einer Woche beginnt. Leser*innen der #Freitagsbriefe bekommen bis zum 20.6. um 24 Uhr einen Rabatt von € 20 auf den freudigen Reisepreis. Schreib mir einfach mit dem Stichwort „Freitagsbriefe“ an hallo@eva-scheller.de
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